Continuity - Hitchcocks, Pocahontas  | 
                             
                           
                         
                        Auszug aus
                          dem Krimi - Hier gibt es mehr Informationen! 
                         Der Clown, an die Wand gestützt mit
                          den runtergelassenen Hosen auf den dicken Plastikzehen und die Tussi mit
                          der Maske und hochgeschobenem Rock, schwarzen Strümpfen mit Strapsen,
                          stößt sie von hinten. 
                        Gleich am nächsten Morgen machte sich Karl
                        an die Arbeit. Es war wieder ein wunderschöner Sommertag Ende August
                        und eigentlich hätte er lieber eine Tagestour mit dem Rad, Rennmaschine
                        oder MTB, unternommen, von den Terminen her wäre ihm das möglich
                        gewesen, die Mädel hatten Ferien, und wer wusste schon, wie lange das
                        Wetter noch so bliebe, aber er hatte es Eva versprochen und so machte er
                        sich auf den Weg zum Bavaria Filmgelände. Er nahm seine Enduro, die
                        Power-Honda, seinen Dampfhammer; Arbeit ja, aber wenigstens Zweirad.
                        „Wo willst du hin?" wollte Yvonne wissen, „du fährst doch
                          mit den Mädchen heute zum See." 
                        Das hatte er vergessen. 
                        „Fahr du schon mal vor, ich muss nur kurz aufs Gelände, da ist
                          irgend was. Ich bin in zwei Stunden am See." 
                        Vergessen. Kein Wunder, auf der Zugfahrt, den ganzen Abend und einen
                          Teil der Nacht über hatte er gegrübelt, was es mit der merkwürdigen
                          Faschingsnummer auf sich haben könnte. 
                        „Dann schaff wenigstens das Schlauchboot ins Auto." 
                        Er tat es und wurde von seiner Frau zum Abschied geküsst. Er
                          wunderte sich nur kurz darüber, wie gut sie heute offensichtlich auf
                          ihn zu sprechen war. Sie hatten sich gestern Abend nicht mehr gesehen,
                          er war gleich in sein Arbeitszimmer im Souterrain gegangen, wo er in
                          einem Nebenraum auch ein Bett hatte. Yvonne und Karl hatten seit dem
                          letzten großen Scheidungsbegehren Yvonnes die getrennten Schlafzimmer
                          beibehalten. Das letzte große Scheidungsbegehren war ein ganz
                          außergewöhnliches gewesen, weil es nicht im Zusammenhang mit einer
                          Schwangerschaft gestanden hatte. Als Yvonne ihren Scheidungswunsch
                          äußerte, war Karls verblüffte Reaktion: „Du bist doch nicht
                          schwanger?!" Yvonne war 48, sein Wonneproppen, mittelgroß, üppig
                          und geil. Meistens, sie konnte äußerst launisch sein. Karl war 51
                          Jahre alt, Susanne, die jüngste Tochter immerhin schon zwölf und das
                          letzte große Scheidungsbegehren war vor knapp zwei Jahren abgebrochen
                          worden, nachdem ein modus vivendi in langwierigen Verhandlungen unter
                          Einbeziehung der Mädchen gefunden worden war. Damals hatte auch Rebecca
                          noch im Hause gelebt. Sie war jetzt Mitte zwanzig und lebte am Genfer
                          See, arbeitete dort als Übersetzerin. Die beiden mittleren Töchter, 15
                          und 19 Jahre alt, hießen Alice und Anna. 
                        Karl hatte auch einen großen amerikanischen Kühlschrank voller
                          Getränke und einen Tischgrill, für den Fall, dass er sich außer der
                          Reihe etwas zu essen machen wollte. Seitdem klappte alles besser, ihre
                          Tagesabläufe waren einfach zu unterschiedlich. 
                        Eva. Was immer dahinter steckte, wenn etwas Bestimmtes und jemand
                          Bestimmtes dahinter steckte, es oder er würde nicht leicht
                          herauszufinden sein. Und wenn nichts dahinter steckte: umso besser! Auf
                          jeden Fall musste er tun, was er versprochen hatte. Eva hatte Angst, sie
                          fühlte sich bedroht, und wenn tatsächlich an der Drohung etwas sein
                          sollte, und es zu wie auch immer gearteten weiteren Vorkommnissen kommen
                          sollte, würde er sich nie verzeihen, Evas Ängste nicht ernst genommen
                          zu haben. 
                        Würde er also seine Untersuchungen beginnen. Wenn Evas Ängste nur
                          ihr selbst und keiner äußeren Bedrohung entsprangen, könnte er
                          vielleicht interessanten Stoff entdecken. Wenn Evas Ängste jedoch
                          begründet waren und in Zukunft geschähe etwas, hätte er bereits
                          Erkenntnisse gesammelt, die dann doppelt hilfreich sein konnten. 
                        Er ging als erstes in die Kantine, fand dort aber niemanden, den er
                          kannte. Er kaufte sich einen Kaffee und überlegte. Er kam sich blöd
                          vor, da hatte er die ganze Nacht gegrübelt, wie er es anstellen würde,
                          die Leute geschickt auszufragen, und jetzt war kein Mensch da, den er
                          hätte fragen können. Es war eigentlich gar nicht so schwer. Die
                          Hälfte der Anwesenden bei der Faschingsfeier waren Frauen, von den
                          Männern trug ein großer Teil keine Gesichtsmasken. Ohne einen Einzigen
                          befragt oder ein einziges Foto zu Gesicht bekommen zu haben, wäre der
                          Kreis mit Sicherheit auf ein paar wenige zu beschränken, WENN, ja wenn
                          der Täter, oder die Maske, wie sollte er ihn/sie nennen?, kein Fremder
                          von außerhalb war. Am gleichen Tage hatten mindestens zwei weitere
                          Faschingsfeten auf dem Gelände stattgefunden. Die Bavaria vermietete
                          auch für private Feiern, seinen fünfzigsten Geburtstag hätte er fast
                          auch hier gefeiert. Er entschied sich dann jedoch für etwas
                          gemütlicheres, für einen Biergarten. 
                        „Hei Karl, was machst denn du da?" 
                        „Ich wollte gleich was ans Schwarze Brett hängen, ich hätte gerne
                          Fotos vom letzten Fasching." 
                        „Ich hab keine. Aber der Rudi hat doch fotografiert wie wild, frag
                          den mal." 
                        Cutty, weil sie richtig Katharina hieß und als Cut-Assistentin
                          arbeitete, setzte sich zu Karl an den Tisch. Ihr Haar war kurz und
                          struppig und gefärbt in einem Farbton, den man früher zinnoberrot
                          genannt hat, der heute sicher einen Namen trug wie ICH, Infernal Color
                          of Hell. Ihre Kleidung, Leinenhose, kurzes Hemd, Janker, burschikos
                          hätte man früher gesagt, war ein munteres Zappen durch die Moden der
                          Nachkriegszeit, und bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten getragen
                          worden von ihren vielen, vielleicht schon verschiedenen Vorbesitzern.
                          Sie rührte sich ein Müsli an, mehr Ringe als Finger an der Hand, und
                          plapperte munter weiter. 
                        „Suchst du was Bestimmtes? Oder ... Hei, Mann, das fällt mir jetzt
                          wieder ein, da war ja die Hölle los, echt! Die komplette Maske lag
                          schon um sechs unterm Tisch, ha, der Griener hat mal wieder die Kulla
                          angebaggert und ist sowas von kalt erwischt worden, Frau Kullas Gespür
                          für Eiseskälte, das glaubst du nicht, und die liebe Eva hab ich beim
                          Bumsen überrascht auf dem Flur. Ich konnte nix dafür, bin ja kein
                          Spanner, aber das sah echt geil aus. Der Clown an die Wand gestützt mit
                          den runtergelassenen Hosen auf den dicken Plastikzehen und die Tussi mit
                          der Maske und hochgeschobenem Rock, schwarzen Strümpfen mit Strapsen,
                          stößt sie von hinten. Ich kann dir sagen, ich wusste im ersten Moment
                          überhaupt nicht, was los war. Ich dachte, soviel hast du doch gar nicht
                          gehabt, dass du jetzt im Schneegestöber stehst. Bis ich das mal
                          sortiert hatte." 
                        Sie schüttelte den Kopf und fing an, ihr Müsli zu löffeln. 
                        „Wer war denn die Frau?" 
                        „Wie meinst du das jetzt, Karl? - Wer unten lag? Die standen
                          ..." 
                        „Haha. Die Person in der Frauenkleidung." 
                        „Keine Ahnung, aber der Clown war Eva, das weiß ich. Das Jahr
                          davor war sie als Squaw verkleidet. Und die war weg, völlig hinüber,
                          totale Ekstase. Nicht, dass sie rumgeschrien hätte oder so, nein, kein
                          Ton, auch kein wildes Gerammele, stumm und fast bewegungslos, Kopf in
                          den Nacken gelegt, Augen zu, Mund leicht offen, ich sag dir, ich war
                          richtig neidisch, so was von Verzückung, Entrückung im Gesicht, boa
                          äi, ich hab ne Gänsehaut gehabt, das hab ich mein Lebtag ..." 
                        „Ist ja gut, Cutty, lass es sein, bitte." 
                        „So was kriegt nicht jeder hin, ein Teufelskerl ..." 
                        „Cutty, bitte!" 
                        Sie lächelte, sah ihn an und kam auf die Erde zurück. Da machte
                          Eva ein solches Geheimnis aus ihrer Faschingsaffäre, wurde krank
                          darüber, zog ihn, Karl, wahrscheinlich nur mit den allergrößten
                          Bedenken ins Vertrauen, dabei hatte sich garantiert die gesamte
                          Mannschaft schon über Cuttys Schilderung amüsiert. Und die hatte sich
                          gerade ein wenig anders angehört als Evas Version. 
                        Cutty Sark, Karl wusste das, war der Name eines englischen
                          Handelsschiffes, einer Gedichtzeile Robert Burns entnommen: Tam O’Shanter,
                          who wore only a cutty sark: Tam O’Shanter, der nur ein kurzes Hemd
                          getragen. Kurzes Hemd, das war doch eine Metapher für Armut,
                          Sterntaler, aber deutlich voller sexueller Konnotationen, leicht zu
                          haben, leicht zu nehmen. 
                        So wie Cutty den Vorfall nun geschildert hat, dachte Karl, müsste er
                          sich wahrhaftig keine Sorgen machen. Das konnte nur eine ganz banale
                          Karnevalsaffäre gewesen sein. Dafür jedoch war Eva viel zu verstört,
                          irgend etwas war nicht in Ordnung, etwas war ausgelöst worden, und ob
                          ein Vorsatz dahinter steckte, also eine kriminelle Energie, war gar
                          nicht entscheidend. Man musste heraus finden, warum Eva so reagierte.
                          Karl stand auf, küsste Cutty auf die Wange, berührte mit seiner Nase
                          das Piercing an ihrer, stellte fest, dass sie außerordentlich gut roch,
                          und ging ins Verwaltungsgebäude, um dort seine Anfrage in Sachen Fotos
                          anzupinnen. 
                        Auf dem Weg zur Honda machte er einen Schlenker durch das Studio, in
                          dem gerade der Drehbeginn der zweiten Staffel seiner Soap anstand. In
                          zwei Tagen sollte in einem Meeting die Konturen der dritten Staffel
                          besprochen werden, je länger eine Serie lief, je erfolgreicher sie war,
                          umso schwieriger gestalteten sich diese Verhandlungen, weil jeder
                          glaubte, ihm oder ihr sei der Erfolg zu verdanken und dementsprechend
                          wuchsen auch die Begehrlichkeiten. Angefangen hatte es mit einer
                          Drehbuchautorin Selma Löffler, die natürlich alle Lagerlöff nannten,
                          wenn sie nicht dabei war. Später war Karl als Assistent dazu gekommen,
                          Eva hatte ihn auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht. Dann kam
                          Freinersborder dazu als Supervisor, der aber selber nichts schrieb, Karl
                          rückte gleichberechtigt neben Selma, und nun sollte beiden bald ein
                          junger Autor zuarbeiten. 
                        Es war ziemlich ruhig in der Halle, anscheinend waren die
                          Vorbereitungen beendet und das Team in der Kantine, bevor die
                          Dreharbeiten losgingen. Lediglich zwei Polen hämmerten an den Wänden
                          herum. Der eine hätte der Statur und dem Alter nach in Karls
                          Fahndungsraster gepasst, aber die beiden waren Fremd- oder Leiharbeiter
                          und damals noch gar nicht hier. Karl wusste, dass es in Polen nicht nur
                          hervorragende Stukkateure und Restaurateure gab sondern auch ebensolche
                          Bühnenhandwerker. Auch von den Elektrikern war noch einer da, der seine
                          Strippen zog und gelb-schwarze Signalbänder klebte. 
                        „Dragan, wirst du heute nochmal fertig? Mach hin, Kerl!",
                          klang es aus den Lautsprechern. Dragan machte in aller Ruhe weiter und
                          zeigte den Stinkefinger, aber so, dass man es hinter der Scheibe des
                          Stellwerks, von wo man ihn angeschnauzt hatte, nicht sehen konnte. Auch
                          er war knapp 170 groß, war irgendwo in dem Alter „junger Mann". 
                        Karl verließ die Halle und traf auf dem Flur Alex, die
                          Produktionsassistentin. Blond, groß, in voller Montur: In den vollen
                          Seitentaschen ihrer Cargo-Hose klickte etwas mit jedem energischen
                          Schritt. Handy an der Hüfte, hinten den Sender, um den Hals Kopfhörer
                          mit Mikro, Klippboard und Skript, Stoppuhr, Zigarette im Mundwinkel. Sie
                          war blond und sauhübsch, hatte eine tolle Figur, sie war klug und
                          beherrscht. Sie sah immer ungeheuer professionell aus, nach
                          Großprojekt, Staudamm am Yangtse, Brücke über den Kanal oder
                          Operation Wüstenfuchs. 
                        „Sag mal, Alex, der Dragan, wie lange ist der eigentlich schon
                          hier?" 
                        „Hi, Karl. Der ist schon länger da als ich, also mindestens acht
                          oder zehn Jahre." 
                        „Der spricht gut deutsch, hört sich irgendwie nach Ruhrpott
                          an." 
                        „Ja, warum fragst du?" 
                        „Ach, nur so, Alex, ich habe ihn gerade in der Halle gesehen." 
                        „Was, die sollte doch längst fertig sein." 
                        Sie ließ die Zigarette fallen und trat sie mit der Schuhspitze aus;
                          natürlich war auch auf den Gängen das Rauchen verboten. 
                        „Ja, ja, der ist in Duisburg geboren, Eltern Jugoslawen, also, das
                          was damals Jugoslawen waren. Der war übrigens während des
                          Bürgerkrieges ein Jahr oder anderthalb da unten, hat auf einer Seite,
                          frag mich nicht auf welcher, mitgekämpft. Da macht er ein ganz großes
                          Geheimnis draus. In dem Stil ‘Ihr habt ja alle keine Ahnung, was in
                          der Welt wirklich los ist.’" 
                        Was Alexandra nicht wusste, wusste niemand auf dem Gelände, nicht
                          einmal Cutty. Sie steckte ihre Nase auch in die Personalakten, hatte ein
                          Wörtchen mitzureden bei den Besetzungen und Einstellungen, was sie
                          gewissermaßen unangreifbar machte. 
                        „Ich muss weiter, Alex, toi, toi, toi." 
                        „Toi, toi, toi: Wir sehen uns Donnerstag, Karl." 
                        Sie dampfte ab in die Halle, während Karl ihr nachblickte. Ihr Arsch
                          sah toll aus und ihr langes, blondes Haar wallte bei jedem Schritt.
                          Hörte das denn nie auf, fragte er sich. Mit einem Schlag wurde ihm
                          klar, dass er auf dem Gang stand, auf dem das passiert war, was Eva aus
                          der Bahn geworfen hatte. Geheimnis des Ganges, Mythos auf dem Flur
                          zwischen Halle und Garderoben, Toiletten und Maske, Requisite und
                          Studio. War das Soap, sexuelle Fantasie oder schrille Realität? 
                        Dann machte er sich gutgelaunt auf den Weg an den See. Das Wetter war
                          immer noch perfekt. Gegen eins würde er da sein und viel Spaß mit
                          seiner Familie haben. Normalerweise gingen die Girlies ja mit ihren
                          jeweiligen Cliquen zu Schwimmen, aber einmal im Jahr fuhren sie noch
                          gemeinsam an den See, was sicher bald ein Ende haben würde. Er konnte
                          ein wenig die Ohren spitzen, Originaltöne Kids, Jargon aufzeichnen, das
                          konnte er jetzt gut gebrauchen für die Serie. Eva wird hoffentlich,
                          dachte Karl, mit ihrem Psychoanalytiker vorankommen und den Ursachen
                          ihrer Krankheit auf der Spur sein.  |