Diesen Aufsatz und 18 weitere, plus 7 Cartoons finden Sie hier:
Den Widerspruch zwischen Gelesenem und
Gelebtem mit Geschriebenem lösen
"Ist es denn
überhaupt Gesang? Trotz unserer Unmusikalität haben wir
Gesangsüberlieferungen; in den alten Zeiten unseres Volkes gab es
Gesang; Sagen erzählen davon, und sogar Lieder sind erhalten, die
freilich niemand mehr singen kann. Eine Ahnung dessen, was Gesang ist,
haben wir also, und dieser Ahnung entspricht Josefinens Kunst eigentlich
nicht. Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es vielleicht nicht doch nur
ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle, es ist die
eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder vielmehr gar keine
Fertigkeit, sondern eine charakteristische Lebensäußerung. Alle
pfeifen wir, aber freilich denkt niemand daran, das als Kunst
auszugeben, wir pfeifen, ohne darauf zu achten, ja ohne es zu merken,
und es gibt sogar viele unter uns, die gar nicht wissen, daß das
Pfeifen zu unseren Eigentümlichkeiten gehört." (Franz Kafka,
Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, In: Gesammelte Werke,
Frankfurt M 1983)
Setzen wir mal für Pfeifen
Reden, Talken, Chatten, und der Gesang sei, was Franz K. mit Sicherheit
im Sinne hatte, die Literatur. Denken wir dann noch an das sog.
Literarische Quartett, erübrigt sich jede weitere Kommentierung.
"Gestaltete in klarer,
schlichter, ausgefeilter Prosa den einsamen, modernen Menschen in seiner
Lebensangst, im Widerspruch mit sich selbst und einer anonymen,
überwältigenden Macht; wichtig auch das
Autoritäts-/Vaterproblem." (Der Knaur, München 1991)
Ich stelle mir vor, Kafka hätte
als Schriftsteller Erfolg gehabt, sei nicht krank geworden, sondern nach
Amerika (vgl. gleichnamiges Roman-Fragment) gegangen, nach Hollywood ...
Für mich hat Das Schloß etwas durchaus Chaplineskes, Komisches
("Komisch wie Kafka").
Folgende Szene, K. hat sich
hinter/unter der Theke in der Kneipe versteckt; Hilfe dabei kommt ihm
von Frieda,
"einer recht kecken Angestellten überdies. »Den Landvermesser
habe ich ganz vergessen«, sagte Frieda und setzte K. ihren kleinen Fuß
auf die Brust."
Weiter gehts, ich zitiere nur
den Schluss der Szene:
"Sie umfaßten einander, der kleine Körper brannte in K.s Händen,
sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend,
aber vergeblich, zu retten suchte, ein paar Schritte weit, schlugen
dumpf an Klamms Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und
dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen
Stunden gemeinsamen Atmens, gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in denen
K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in
der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, einer Fremde, in der selbst
die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor
Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch
nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren." (Das
Schloß, Gesammelte Werke)
Hat jemand jemals so schön die
Angst des Penis in der Vagina der "Fremdheit" und der
"Verlockungen", die Angst dort zu ersticken, sich zu verirren,
beschrieben?
Dagegen Houellebecq in der
Kritik:
"Hier geht es um die
Verarbeitung einer Epoche zu Literatur, der Epoche unseres auf
Individualismus kürzbaren Gesellschaftsmodus und sozialdemokratisch
erschließbaren Lebensglücks." (Joseph Hanimann in der Frankfurter
Allgemeinen zu Michel
Houellebecqs "Ausweitung der Kampfzone", Berlin 1999). Und
Houellebecq wird in seltener Einmütigkeit des Feuilletons überall
gelobt.
Ich habe nicht nur die
Kampfzone sondern auch "Elementarteilchen" gelesen und finde
nicht einen Satz, der es wert wäre, zitiert zu werden. Houellebecq
erzählt nicht, was von Hanimann als "ohne narrative
Hilfsperspektive durchgehaltene Spannung" beschönigt wird. Ein
feuilletonistischer Euphemismus, der exemplarisch ist. Houellebecq teilt mit, was er über die Welt zu wissen glaubt, was seine
Romane allerdings erträglich macht ist die Tatsache, dass er nicht
jammert. Er ist nach meinem Dafürhalten ein abgewichster Schwafler,
intellektuell, zynisch. Es wird mehr gewichst, gefickt und geblasen als
bei Bukowski, aber so unendlich öde, lustlos, gelangweilt! Wir haben ja
längst alles hinter uns! Kann man es sich als Kritik wirklich so leicht
machen, die eigene Phantasie- und Lustlosigkeit, die aus Übersättigung
resultiert, in solchen Romanen gespiegelt zu finden und das dann als
interessante literarische Entdeckung zu feiern? Wenn die beiden Romane
von Houellebecq literarischer Ausdruck der Öde des postmodernen
Menschen sein sollen, wären die unsäglichen Nachmittags-Talkshows
literarisch der absolute Höhepunkt. Das wäre die Reihe vom Gesang
übers Pfeifen zum bloßen Luftablassen.
Und es gibt einen Unterschied
zwischen Individualismus und Subjektivismus, liebe Leute! Die Welt ist
nicht nur das, was ICH von ihr wahrnehme, die Welt ist nicht nur das,
woran ICH leide, und mit den beiden großgeschriebenen ICHs meine ich
nicht mich selbst. Es gibt eine Welt oder viele Welten, es gibt
Individuen, es gibt WAHRnehmung als solche und es gibt Roman-Literatur,
die in der Lage ist, das erzählerisch darzustellen. Houellebecq bringt
das nicht. Sind wir wirklich so weit, dass wir uns nur noch über
Defizitäres definieren können? Haben wir wirklich keine Ahnung mehr,
was Literatur sein kann?
Als Kafka schrieb "Eine
Ahnung dessen, was Gesang ist, haben wir also ...", hatte er keine
Ahnung, was in unseren Zeiten aus dieser Ahnung geworden ist. |