Auszug (der Schluss) aus dem Kapitel
Im Goldpfad, 19./20. Dezember 1987 (Lenas 30. Geburtstag)
(aus dem Roman "Im Goldpfad 10")
Danach, es war schon Mitternacht, und mit dem Verbringen der insgesamt sieben Kinder zu einem Baby-Sitter im Schlaflager des Trüttingschen Hauses, waren die Weichen gestellt, ging jetzt die Post so etwas von ab, aber hallo! Gefolgt wurde dieser Auftritt nämlich von den drei Mädels, die mit Lena Abitur gemacht hatten. Nun erst begriff Lena, dass die Mädels in ihren Kostümen gekommen waren. Hell-lila mit Strass durchwirkte Fummel, die alle aus dem gleichen Stoff gearbeitet aber unterschiedlich geschnitten waren. Alle drei schulterfrei, zwei, Susi und Ellen, tief dekolletiert, Ruths Kleid war auch schulterfrei, aber hochgeschlossen und endete in einer Art Rollkragen. Nun ja, mein Gott, kostümiert waren sie eigentlich immer. Mal so, mal so. Eine Blonde, zwei Dunkelhaarige, ja, Charlie’s Angels aus den ersten Episoden mit Kate Jackson, Farrah Fawcett-Majors und Jaclyn Smith. Hätten die Klassenkameradinnen ihre erste Idee der Kostümierung realisiert, Susi im Tennis Outfit, Ruth im Reitdress und Ellen im Bikini, Lena hätte sofort gewusst, um was es ging. Die Serie hatte angefangen, als sie Abitur machten. Susi war der löwenmähnige, athletische Engel Jill, verkörpert von Farrah, Ellen war der ausgebuffte Engel Kelly, dargestellt von Jaclyn, und Ruth war die coole, smarte, mehrsprachige Chefin Sabrina, gespielt von Kate. Es stellte sich heraus, dass Lena und nicht Charlie der unsichtbare Drahtzieher und Auftraggeber war. Once upon a time, there were three little girls who went to the police academy. And they were each assigned very hazardous duties but I took them all away from all that and now they work for me. My name is Lena. Sie hatten mit Lena’s Angels eine Hommage an Lena und die gute alte Schulzeit in Gedichtform eingeübt und außerdem einen Sketch Vier flotte Frauen und ein dröger Dreier, ein Feuerwerk voller sexueller Anspielungen, wobei sich am Ende herausstellte, dass der Dreier ein Lottogewinn war. Lena war froh, dass die Angels den nicht ganz unterdrückten Seufzer „und jetzt ausziehen!“ von Jens und Walter nicht hören konnten. Lena wollte sich nicht vorstellen, was hätte passieren können. Schlägerei, übelste Beschimpfungen der Macho-Schweine oder aufreizender Strip, in dem Zustand, zu diesem Zeitpunkt, wäre alles möglich gewesen.
Jens hatte Lenas Blick bemerkt und versuchte die Kurve zu kriegen, indem er so tat, als habe er Walter Details aus einem Scheidungsverfahren erzählt, bei dem die betrogene Frau tatsächlich einen Privatdetektiv engagiert hatte, der herausgefunden und dokumentiert habe, wie der Ehemann eben jene Worte zu seiner Geliebten gesprochen haben sollte: „und jetzt ausziehen!“ Dokumentiert sei auch die ausgezogene Geliebte, die beiden improvisierten munter weiter: „Wenn ich so dick wie Günter Strack wäre, könntest du für mich den Josef machen. Da steckt wirklich ne Menge Kohle drin, Walter.“
„Ihr seid kein Fall für Zwei, sondern ein Fall für den Psychiater.“
„Soschdama watt sohn?“, Walter versuchte den Betrunkenen zu geben.
„Sag mir mal was.“
„Prosssst, Jung, Jens, Jensjung!“
„Das musste ja mal gesagt werden, prosit, Walterchen!“
Ruth hatte als einzige von den ehemaligen Schulkameradinnen einen männlichen Partner mitgebracht, Marc: „Der Schwarze Montag vom neunzehnten Oktober ist genau zwei Monate her, liebe Leute, die Börsenkurse brachen um zwanzig Prozent ein, kann man sich das vorstellen, zwanzig Prozent?!“
„Ich kann.“
„Das kann sich niemand vorstellen. Und das war erst der Anfang.“
Irgendwie gefiel Mark Lena und sie unterhielten sich kurz aber sehr angeregt. Mark war bei der Sparkasse beschäftigt und kannte sich mit Immobilien gut aus. „Die wilde Bauerei ist erst einmal vorbei, sage ich dir.“
An der Nordseeküste am plattdeutschen Strand, man mochte es nicht glauben, nur vier Tage vor Heilig Abend gab es im Goldpfad 10 eine Polonäse durch alle Stockwerke, sind die Fische im Wasser und selten an Land. Es sollte nicht lange dauern, da stand sogar ein Pferd auf dem Flur.
„Man muss ja dazu sagen, dass das eine ein holländisches Liedchen ist Er staat een paard op de gang und das andere eine Neufassung nach der Melodie des irischen Volkslieds The Wild Rover.“
„Kluchschaissä, nä!“
„Hassen schöness Fäss, Lena, schönes Fäss, äscht. Prost. Schönes Fäss. Wie alt wirsse? Nä, gieh fott, doch kain Draisssisch. Im Leebe nitt.“
Lena machte einen letzten Rundgang mit einer Flasche Champagner im Kühlmantel. Sie begann in der Küche; hier hatte sich nicht nur Geschirr gestapelt, hier standen auch zahllose leere Flaschen herum. Ilona Trütting, Ruth, Peter und Heiner von den Pfadfindern kratzten die letzten Reste aus den Töpfen: „Die Braten waren wirklich spitze, Lena, das muss man deinem Bruder lassen.“ Heiner hatte seine Hand um Ruths Hüfte gelegt; war sie nicht mit Mark gekommen? „Prost, Lena!“
Weiter zum Wohnzimmer, in dem sich die älteren Gäste versammelt hatten, als da waren, Wolfgang, sein Freund Willi, dessen Frau ihren Kopf an seine Schulter gelegt hatte und schlief. Das Ehepaar Ritter von gegenüber, in deren Garten Lena als Kind so oft gespielt hatte. Und Denise, deren Leistungskurve eindeutig nach unten zeigte und deren Kopf immer wieder nach vorne nickte. „Lena, das ist ein ganz tolles Fest, es ist wirklich schön, dass die Nachbarschaft mal wieder zusammensitzt, deine Mutter wäre stolz auf dich. Prost, auf deine Mutter, Lena. Wir gehen aber bald.“
Lena stieß mit allen an und nahm Denise mit in den Keller. Der Partyraum mit der Bar war nur noch von Kerzen erhellt; um die Bar hatten sich Marc, die drei Pfadfinderinnen, Ellen und Susi, Jürgen Trütting und von Walters Autorengruppe drei Kerle versammelt, deren Namen Lena vergessen hatte. In den paar Minuten und zwei Gläsern Champagner, während denen Lena und Denise in der zweiten Reihe an der Theke standen, schwirrten die Gesprächsthemen von Willy Brandts vorzeitigem Rücktritt vom SPD-Vorsitz über die Documenta 8 bis zum Begrüßungsgeld für DDRler, das von zweimal dreißig auf einmal einhundert DM erhöht worden war. Janas Lehrerin und Jessicas Kindergärtnerin waren auch hier und ließen sich von Marc mit Rotwein, Chips und Börsentipps versorgen; der Typ hatte etwas weniger Charme als Selbstbewusstsein, aber sein Selbstbewusstsein war ganz enorm.
„Hasse nochn Flasch Rotflasch?“
Wer wollte das wissen? Oh, einer der Autoren, der dickbäuchige und Pfeife rauchende. Mark widmete seinen männlichen Gästen eindeutig nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie den weiblichen.
Walter fanden Denise und Lena, die sich gegenseitig um die Hüfte gefasst hatten und so ihren schwankenden Gang abwechselnd stabilisierten und destabilisierten, in der Disco mit Tanzfläche, also in seinem Zimmer im Souterrain. Auch hier war es dunkel, eigentlich sah man nur Dezemberlicht durch die Fenster hereinscheinen und die Kontrollleuchten der Musikanlage, aus der laut Bluesmusik drang. Zwei Paare tanzten engumschlungen, Walter hockte in seinem Sessel und spielte Luftgitarre.
„Na, ihr zwei Hübschen, wie hammas denn?“
„Al Fatah“, antwortete Denise, die Walters Humor mittlerweile ganz gut kannte, „und du, mein Schatz? Wie geht es dir?“
Es ging ihm gut und dann tanzten sie zu dritt zum Deacon Blues von Steely Dan: This is the day / of the expanding man / that shape is my shade / There where I used to stand / It seems like only yesterday / I gazed through the glass / at ramblers / wild gamblers / that’s all in the past.
© 2021 Klaus-Dieter Regenbrecht
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