Die ungarische
Regierung hat Sonntag abend den mehr als 6000 Flüchtlingen im Land aus eigener
Verantwortung und ohne Zustimmung Ost-Berlins die Ausreise in die Bundesrepublik
erlaubt. Budapest gab damit den zum Teil schon seit Wochen ausharrenden DDR-Bürgern
für Mitternacht grünes Licht für die Ausreise.
Die Regierung
in Budapest wies ausdrücklich darauf hin, daß die Verhandlungen mit der DDR über
eine Lösung der Flüchtlingsfrage zu keinem Resultat geführt hätten und die
Lage an der Grenze unerträglich geworden sei. Die Ungarn setzten für ihren
Schritt ein zweiseitiges Abkommen mir der DDR außer Kraft, das beiden Ländern
bisher untersagte, Staatsbürger des jeweils anderen Landes ohne entsprechende
Ausreisegenehmigung ihres Heimatlandes in den Westen ausreisen zu lassen.
Die Regierung
ordnete an, daß die Grenzwachen von Mitternacht an alle DDR-Bürger an jedem
gewünschten Grenzübergang ausreisen lassen. Wie es in Budapest hieß, sollen
die Grenzen nach Österreich solange offen bleiben, bis die DDR-Bürger in aller
Ruhe das Land verlassen haben.
Die bayerischen
Sicherheits- und Verwaltungsbehörden rechneten am Abend mit einem Reisestrom
von DDR-Bürgern aus Ungarn in Richtung Bayern schon unmittelbar nach
Mitternacht. die individuelle Einreise in die Bundesrepublik mit bis zu 1000
Personenwagen, die die Flüchtlinge mitbringen, werde voraussichtlich nicht in
Konvois erfolgen.
In
Degendorf/Niederbayern standen Sonntag abend schon 40 Omnibusse des
Bundesgrenzschutzes (BGS) bereit, die die am Hauptbahnhof Passau mit Zügen
erwarteten Flüchtlinge – vermutlich 500 – sofort gleichmäßig auf alle
Festunterkünfte und die fünf Zeltstädte im Freistaat verteilen sollten.
Bundeskanzler
Helmut Kohl hat den Schritt der ungarischen Regierung zur Ausreise der DDR-Flüchtlinge
als eine „Entscheidung der Menschlichkeit und der europäischen Solidarität“
begrüßt. Auf dem Presseabend am Rande des CDU-Parteitages in Bremen sagte er:
„Ich bin sehr, sehr dankbar.“
Die
Bundesregierung werde alles tun, um die Landsleute aus der DDR „herzlich
aufzunehmen und ihnen Startchancen zu verschaffen.“ Er appelliere an alle
Bundesbürger, im Rahmen ihrer Möglichkeiten dabei behilflich zu sein. Die DDR
hat die ungarische Entscheidung zur Ausreise der DDR-Flüchtlinge verurteilt.
Die amtliche Nachrichtenagentur ADN verbreitete Sonntag abend eine entsprechende
„Mitteilung“. Darin hieß es, wie aus Ungarn verlaute, sei den sich in
Ungarn „aufhaltenden DDR-Bürgern illegal und unter Verletzung völkerrechtlicher
Verträge und Vereinbarungen in einer Nacht- und Nebelaktion die Ausreise in die
BRD“ ermöglicht worden. Dabei handele es sich um eine direkte Einmischung in
die inneren Angelegenheiten der DDR.
Freudenschreie,
Applaus, Jubel, Freudentränen und stumme Fassungslosigkeit, die ungarische
Ausreisegenehmigung hat für die inzwischen mehr als 6000 DDR-Bürger in Ungarn
am Sonntag abend in den Lagern in Budapest und am Plattensee beinahe
unbeschreibliche Szenen ausgelöst.
Ab Montag, so
die ersten Informationen, sollten denn auch die ersten Busse und Züge Richtung
Westen rollen. Im Lager selbst ging diese Information fast unter. Zu groß war
der Trubel. Kaum jemand kannte alle Einzelheiten. Noch eine halbe Stunde nach
Bekanntgabe der Nachricht standen fragende Flüchtlinge in der Menge, die immer
noch nicht wußten, was passiert war.
DDR-Führung
immer tiefer in der Krise; Regierung tritt zurück. Fluchtwelle nimmt zu. In der
DDR überschlagen sich die Ereignisse. Während immer mehr Menschen ihre Heimat
verlassen, hat die Regierung unter Führung von Willi Stoph gestern abend ihren
Rücktritt erklärt.
Herausragende
Punkte der stürmischen Entwicklung waren: Der 45-köpfige Ministerrat trat
gestern geschlossen zurück; er bleibt jedoch im Amt, bis die Volkskammer einen
neuen Rat gewählt hat. Damit wurde die von Staats- und Parteichef Egon Krenz
angekündigte umfassende Erneuerung der Führungsspitze überraschend schnell
eingeleitet.
Die Regierung
appellierte eindringlich an die DDR-Bürger, im Lande zu bleiben und sich
redlich zu nähren. Die Fluchtwelle hält unvermindert an. Bis heute werden etwa
35.000 Übersiedler erwartet, die durch die CSSR einreisen; die Notunterkünfte
in der Bundesrepublik sind überfüllt.
Das als bisher
größter Reformvorschlag eingebrachte Reisegesetz ist selbst in der SED als
untauglich durchgefallen. Selbst aus den Reihen der Einheitsgewerkschaft FDGB
wird immer stärker Kritik an der Staatsführung laut. Der Verfassungs- und
Rechtsausschuß forderte unverzüglich die Volkskammer einzuberufen. Der
Vorsitzende des Ausschusses, Wolfgang Weichelt, forderte mehr Rechtssicherheit für
die Bürger.
Um das Amt des
Volkskammerpräsidenten bewerben sich erstmals zwei Kandidaten. Vor dem ZK-Gebäude
in Ost-Berlin demonstrierten erstmals mehrere tausend Menschen. Sie forderten
freie Wahlen und prangerten Wahlbetrug bei der Kommunalwahl an, der Egon Krenz
zugeschrieben wird.
Die amtliche
Nachrichtenagentur ADN verbreitete erstmals eine Erklärung der
Oppositionsgruppe „Neues Forum“, in der ein Reisespaß für jeden DDR-Bürger
gefordert wird.
Der Dresdener Bürgermeister
Wolfgang Berghofer sagte in einem Interview, die DDR-Führung arbeite an einem
neuen Wahlrecht, das die Wahl zwischen Kandidaten mehrerer Parteien zuläßt.
Hohe SED-Funktionäre forderten die Einberufung eines Sonderparteitages der SED
noch in diesem Jahr.
Krenz auf
Reformkurs. Die einschneidenden Veränderungen in der DDR gehen weiter. Gestern
wurde das Politbüro auf Reformkurs gebracht. Politiker aller Fraktionen des
Bundestages forderten Ost-Berlin zu freien auf, wer immer sich freien ließe von
diesen Freiern.
Die SED hat den
immer lauter werdenden Ruf nach freien Wahlen in der DDR aufgegriffen und unter
Arrest gesetzt. Das Politbüromitglied Günter Schabowski sagte am Abend auf
einer Pressekonferenz, es werde ein Wahlgesetz geben, das allen selbstbewußten
politischen Kräften ermöglichen werde, ihr Programm vorzustellen und sich an
der Wahl zu beteiligen. „Dem wird sich die SED stellen.“
Mit dem Rücktritt
des alten und der Wahl des neuen Politbüros hat die kommunistische SED
entscheidende Weichen gestellt: Der Dresdener Reformpolitiker Hans Modrow (61),
gehört jetzt nicht nur dem Politbüro an, sondern er wurde auch zum Ministerpräsidenten
vorgeschlagen.
Das
„Neue Forum“ ist auf dem Weg zur Zulassung.
Aus: Transit
Wirklichkeit
© by Klaus-Dieter Regenbrecht 2009
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