Es ist
eine Dummheit zu glauben, Demagogen könne man daran erkennen, dass sie
das Volk belügen. Man erkennt sie daran, wie sie mit der Wahrheit
umgehen. Endlich sagt mal einer die Wahrheit, ist also nur die halbe
Wahrheit.
Konkret:
Sarrazins Buch mag auf seinen über 400 Seiten nur wahre Fakten
auflisten, es ist dennoch reine Demagogie. Endlich sagt mal einer die
Wahrheit, drückt das Gefühl ziemlich genau aus. Man ist erleichtert,
dass es jemand sagt, weil man weiß oder spürt, dass es doch nicht die
ganze Wahrheit ist und man selbst sie deshalb auch nicht ausgesprochen
hat, zumindest so nicht. Das mehr oder weniger dumpfe Gefühl, das ja
auch von irrationalen Motiven durchtränkt ist, erfährt so eine öffentliche
und vermeintlich wissenschaftliche Aufwertung.
Das
Problem mit Sarrazins wahrer Faktensammlung ist, dass er sich seine
Wahrheiten aus sehr unterschiedlichen Quellen zusammensucht, um zu
bestimmten Schlüssen kommen und Thesen aufstellen zu können. Diese
Schlussfolgerungen und Thesen standen vorher fest und die Faktensuche
war darauf fokussiert, sie möglichst drastisch beweisen zu können. Die
klassisch dialektische Vorgehensweise wäre These, Antithese, Synthese.
Es fehlt also die Antithese, es wird alles weggelassen, was nicht ins
Bild passt. Das müsste jeder halbwegs gebildete Einheimische erkennen können.
Demagogie
spricht Halbwahrheiten oder die Wahrheit aus, um eine These, die von Anfang an feststeht, zu
untermauern. Als die Nazis vom Volk ohne Raum sprachen, wollten sie
damit vorab eine Rechtfertigung, die vom Volk emotional mitgetragen
wurde, für einen Krieg nach Außen, gegen die Nachbarn liefern. Wenn
Sarrazin die Schlussfolgerung zieht, die Deutschen arbeiten und sterben
aus, weil deren Geburtenrate zurückgeht, die überwiegend muslimischen
Immigranten arbeiten nicht, integrieren sich nicht, vermehren sich aber
hemmungslos, dann behauptet, schlussfolgert er, wird es bald ein
Deutschland ohne Deutsche geben. Formuliert man diese Aussage um, kommt
man zu der implizierten These: Deutscher Raum ohne deutsches Volk. War
die These von Volk ohne Raum Rechtfertigung für einen Krieg nach Außen,
dürfte die These vom Raum ohne Volk auf eine Rechtfertigung eines
Krieges nach Innen hinauslaufen. Nicht mehr und nicht weniger. Zu Volk ohne Raum allerdings waren die wahren Fakten noch dünner gesät und das dumpfe Gefühl
dagegen noch breiter (basierend auf der historischen Erfahrung z. B. des
verlorenen Ersten Weltkrieges).
In
einer der entnervend vielen Talkshows zum Thema meinte jemand, dass
Sarrazin zu lange in Berlin gelebt habe und seine Ansichten zu sehr von den
dortigen Verhältnissen geprägt seien.
Das
Problem mit der Integration ist ein Wahrnehmungsproblem: Man sieht sie
nicht, wenn sie funktioniert. Meine Eltern waren Kriegsflüchtlinge,
stammen aus (heute) Polen und Russland. Ich bin mittlerweile Sechzig,
meine Eltern sind tot, und wenn ich es keinem auf die Nase binde, wird
niemand die Möglichkeit haben, meinen Migrationshintergrund zu
erkennen. Wahrgenommen wird Integration da, wo sie augenfällig gelingt,
bei Fußballern wie Cacau etc., aber eben vor allem da, wo sie
misslingt.
Ich
lebe in Koblenz, am Rhein, „Vom Rhein - noch dazu. Vom Rhein. Von der
großen Völkermühle.“ So heißt es in „Des Teufels General“ von
Carl Zuckmayer, und so geht es da weiter: „Von der Kelter Europas! (Ruhiger) Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor - seit Christi
Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun
wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht.
Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein
ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die
katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt
dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein
schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein
Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein
dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus
Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant - das
hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder
gezeugt - und - und der der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der
Beethoven und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald und - ach was,
schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der
Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt -
wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem
großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein - das heißt: vom
Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse.“
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