Die Verbindung von Romantik und Landvermessung ist keinesfalls historische Koinzidenz, sondern muss miteinander verknüpft betrachtet werden; und dann ist es auch kein Zufall, wenn sich die Konstellation Romantik und Landvermessung im Rheinland so spektakulär als Rheinromantik und mit den Vermessern Tranchot und von Müffling, ihre jeweiligen politischen Systeme im Hintergrund, präsentiert.
„Die Frage nach dem Wesen des Raumes hat, besonders in der Geschichte des philosophischen Nachdenkens, schon immer eine enorme Rolle gespielt. Gerade in der Romantik, die ein Zeitalter der revolutionären Wandlungen, der politischen und sozialen Strukturen repräsentiert, wurden neue Raumerfahrungen gemacht und neue Raumkonzepte entwickelt. Vor allem die Verbesserung der Vermessungstechnik und der Fortschritt in solchen Disziplinen wie der Kartographie, Geographie und Geologie trugen wesentlich zum Wandel der Raumerfahrung bei. Hinzu kommt, dass die Romantik als ein Zeitalter der Entdeckungsreisen bekannt wird, welche ebenso Änderungen in dem herkömmlichen Raum- und Weltverständnis bewirkten. In diesem Zusammenhang fragt man sich, welche Räume es überhaupt gibt und ob der Raum ein endliches oder unendliches System ist? Wann er als immanentes und wann als transzendentes Gebilde erscheint? Wo liegt die Grenze zwischen Zentrum und Peripherie, Ruhe und Bewegung, sowie innen und außen?“1
Das Zitat gehört zu dem Seminar von 2016 „Zur Topographie der russischen Romantik“ am Institut für Slavistik der Universität Hamburg. Ziel des Seminars war, „erstmals das geopolitische und geopoetische Interesse der russischen romantischen Literatur festzustellen und zu bestimmen, welche Orte, Räume, Regionen und Landschaften für die Autoren der Romantik wichtig waren“ (ebd.). Das geopolitische und geopoetische Interesse der deutschen Romantik wird also auch Gegenstand dieses Essays sein.
Die Qualität dieser Dreierkonstellation, erstens neue Raumer-fahrung, neue Weltsicht, zweitens Landvermessung und drittens Romantik, könnte man mit einiger Berechtigung als Trivalenz bezeichnen, wobei sich die drei Komponenten auf unterschiedliche Art und Weise bedingen und beeinflussen. Genau dieses Zusammentreffen war es ja auch, das mich zu der Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex gebracht hat; seit mehr als 20 Jahren befasse ich mich damit.
Ich habe fast mein ganzes Leben im Rheinland verbracht und verschiedene Aspekte sowohl der Rheinlandschaft als auch der rheinischen Geschichte sind immer wieder in meine literarischen Arbeit eingeflossen. Als wesentliches Motiv wurde das erstmals in meinem 1999 erschienenen Roman „Die Rheinland-Papie-re“ deutlich, in dem beispielsweise die Nibelungensage, Wagners Rheingold und die jüngere Geschichte, die Zeit des Nationalsozialismus, thematisiert wurden.
2002 feierte die Rheinromantik ihren 200. Geburtstag. 1802 bereisten Brentano und Achim von Arnim, sein späterer Schwager, das Rheintal.
„Es setzten zwei Vertraute
Zum Rhein den Wanderstab,
Der braune trug die Laute,
Das Lied der blonde gab.“ (Brentano)
Bezeichnenderweise verlieh die UNESCO im gleichen Jahr, 2002, den Titel „Welterbe Kulturlandschaft Oberes Mittelrheintal“. Und das gab mir den ersten Anstoß, nicht wie bisher wissenschaftliche Recherche in einen erzählerisch fiktiven, sondern in einen literarisch essayistischen Rahmen fließen zu lassen. Reisen ist Raumerfahrung, der Reisende erfährt den Raum anders als der Ortsansässige. Hier der Rheinländer, der aus Ehrenbreitstein gebürtige Brentano, mit dem preußischen Adligen von Achim aus Berlin. Landvermessung ist Raumerfahrung und Raumaneignung, hier der Franzose Tranchot in Napoleons Armee, da der preußische General.
Die Idee zu einem Essay nahm erst Gestalt an, als ich auf meinen Mountain-Bike-Touren auf die Vermessungsarbeiten Tranchots und von Müfflings stieß. Da ich in Tübingen in den 1970ern auch einige Semester Geographie und Kartographie studiert und von jeher ein Faible für Karten habe, fragte ich mich, wie es sein konnte, dass ausgerechnet zu der Zeit, als der französische und dann der preußische Landvermesser die Rheinlande vermaßen, die Rheinromantik ihren Anfang nahm. Denn die beiden Landvermesser waren ja Angehörige ihrer jeweiligen Armee. Wie war es möglich, dass ausgerechnet in einer Zeit, in der Heere aller möglichen Herren durchs Rheinland hin und her zogen, romantische Gefühle aufkommen konnten?
Dass dies weder Zufall noch gar Widerspruch ist, möchte ich mit meinem Essay aufzeigen. Die zweite Auflage ist nötig geworden, weil sich durch die Veröffentlichung der ersten Auflage viele Kontakte und neue Informationen ergeben haben.
Natürlich ist es nicht so, dass das eine das andere unmittelbar bedingt hätte, dass also etwa aus Erkenntnissen der Landvermessung ein romantisches Weltbild entstanden wäre, sondern es verhält sich vielmehr so, dass beides aus einer veränderten Weltsicht heraus entstanden ist; beides ist somit in jenem historischen Mo-ment auf der Höhe der Zeit und zwar beides auf gleicher Höhe. Unter dieser Prämisse, dass sowohl die Romantik als auch die Landvermessung, die Verbesserung der Vermessungstechnik, auf der neuen Raumerfahrung und damit Weltsicht beruhen, habe ich das Kapitel über die Malerei samt Bildmaterial ausgeweitet und genauer in den Fokus gerückt.
Die Landvermessung hört nie auf, weil sich die Messmethoden verbessern, weil sich die Erde nach wie vor verändert. Nicht nur, dass Landkarten neu gezeichnet werden müssen, weil Staaten wieUdSSR in viele, auch sehr kleine Staaten zerfallen, weil Regenwälder abgeholzt werden und Monokulturen entstehen, sondern weil Land dem Meer abgerungen wird, Land ans Meer verlorengeht, Seen austrocknen, Vulkane aktiv sind und die Erdplatten sich bewegen. Warum sollte deshalb nicht auch eine romantische Weltsicht immer wieder neu die sich verändernde Welt zu sehen, zu verstehen und zu zeigen suchen?
In der ersten Auflage habe ich versäumt, auf Arno Schmidts Affinität zur Landvermessung hinzuweisen. Dieser Topos in seiner literarischen Arbeit macht ihn gewissermaßen erst zum ganzen Romantiker und zu einem wichtigen Trigonometrischen Punkt meiner Vermessungsarbeit. Alexander von Humboldt habe ich mehr Raum gewährt, so dass auch er in den Koordinaten von Romantik und Landvermessung noch größere Strahlkraft erhält; sein Geburtstag jährt sich 2019 zum 250. Male. Über seine Forschungs- und Vermessungsarbeit trug er wesentlich zum romantischen Naturverständnis bei, das auch unser modernes Naturverständnis ist. Ein Kapitel über Ricarda Huchs zweibändiges Werk zur Romantik habe ich ebenso hinzugenommen, weil es ein Meilenstein der Romantikrezeption ist, auf halbem Wege zwischen den Romantikern und uns.
Die romantischen Frauen kommen insgesamt besser zur Geltung. Der Essay ist auch in vielen anderen Einzelheiten überarbeitet worden, was sich in der (Unter-)Titelei zeigt. So habe ich statt „Topographie der Rheinlande im Licht der Romantik“ die umfassenderen Begriffe „Rhein, Romantik und neue Raumerfahrung“ genommen, sowie Heine durch Alexander von Humboldt ersetzt, weil er in der 2. Auflage eine so eminent wichtige Rolle spielt. Aus „panoramisch panoptisch“ habe ich „romantisch“ gemacht, weil ich mich der Epoche und all den Themen, die ich hier versammele, ganzheitlich nähere, also romantisch.
Zur Erleichterung des Leseflusses habe ich die Internet-Quellennachweise in die Fußnoten verbannt. Das Internet hat einen ganz erheblichen Anteil daran, dass ich, nachdem ich die Schreibbemühungen von 2004 bis 2006 aufgeben musste, die erste Auflage des Essays in einer Rekordzeit von wenigen Monaten, Februar bis Juli 2018, fertigstellen konnte. Das war möglich, weil es so leicht geworden ist, im Internet in Originalquellen zu recherchieren, ohne langwierige Reisen zu Bibliotheken auf sich zu nehmen. Die Links zu Seiten im Internet, das gilt besonders für die ebook-Versionen, waren zu der jeweils angegebenen Zeit und in der zitierten Form erreichbar. Ich kann nicht garantieren, dass sich das zu einem späteren Zeitpunkt noch genauso darstellt. Ich kann auch keine Haftung für eventuelle Urheberrechtsverletzungen o.ä. übernehmen. Ich kann aber versichern, dass ich mich mit all meinen Möglichkeiten bemüht habe, die Quellen zu verifizie-ren und im wissenschaftlichen Sinne korrekt vorzugehen. Zurück
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