Mein Leben lang habe ich SPD und/oder Grüne gewählt. Ich habe stets den öffentlich-rechtlichen Sendern, ob Rundfunk oder Fernsehen, vertraut. Diese beiden Grundfesten in meinem Erwachsenenleben lösen sich gerade in Nichts auf.
Ja, wegen Corona, besser: wegen des Umgangs der Politik mit der Pandemie, der Bekämpfung des Virus. Mit Politik meine ich das Organ, das seit einem Jahr Politik macht, die Video-Konferenz-Runde (VKR) von Kanzlerin, Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Lange Zeit, bis weit in den Herbst letzten Jahres, habe ich nicht nur alle Regeln befolgt, sondern auch auf die Richtigkeit der Maßnahmen gesetzt. Mit dem sogenannten weichen Lockdown und dem Umgang mit den Zahlen wuchsen meine Zweifel an der Kompetenz der ausführenden Organe.
Was soll man von Politikern, insbesondere der Kanzlerin, promovierte Naturwissenschaftlerin, halten, wenn von exponentiellem Wachstum gesprochen wird? Die Formel zur Errechnung des potentiellen Wachstums ist eine sehr komplizierte, aber sie bedarf auf jeden Fall valider Werte, was den Zeitraum angeht und die Zahl der Infektionen. Diese Werte werden aber nicht statistisch valide ermittelt.
Die Inzidenzen. Nur ein Beispiel: Mühlheim, Baden-Württemberg, Anfang Februar, eine Wandergruppe sorgt für ein Hochschnellen der Sieben-Tage-Inzidenz auf über 900. Katastrophe! Da muss ja praktisch jeder infiziert sein. Die Wirklichkeit: Es handelte sich um 32 Infektionen bei der Gruppe. Weil die Zahlen auch in den kleinteiligen Bereichen der Gesundheitsämter hochgerechnet werden, erhält man diese exorbitanten Werte, die dann dazu herhalten müssen, drakonische Einschränkungen zu rechtfertigen. Und kaum ist die ominöse Inzidenz von 50 in Sicht, wird sie auf 35 heruntergesetzt; ganz zu schweigen von den Bereichen, die längst unter 35 sind.
Nachdem man, die Politik, VKR, den Lockdown als Schutzschild entdeckt hat, hinter dem man sich verstecken kann, den man verlängern und verlängern kann, von dem aus man jegliche Fehler, angefangen bei der App bis zum Versagen bei der Impfung, ganz zu schweigen von der Bekämpfung des Virus in den Hotspots oder dem Schutz der Älteren in den Pflegeheimen, mit Durchhalteparolen und dem Beschwören von Welle über Welle, als wären das Tsunamis, und bösartigen Mutanten ablenken kann.
Seit einem Jahr berichten die Öffentlich-Rechtlichen, von den Privaten kann ich nicht reden, weil ich da nur in Ausnahmefällen reinschaue, ununterbrochen von der Pandemie. Mein Haussender, SWR, 19:30 bis 20:00, Landesnachrichten. Seit einem Jahr mindestens 15 Minuten Corona, jeden Tag. Die Sondersendungen nicht mitgezählt. Und zwar absolut affirmativ. Nur Verlautbarungen aus dem VKR, untermalt von Berichten über drastische Fälle. Dissidente Meinungen, Kritik, wird generell ins Lager der Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker verbannt. Ab und zu mal Berichte über Kinder, die sich mit ihren Laptops beschäftigen.
Nachrichten von Dissidenten, wie dem aus dem bayerischen Ethikrat geworfenen Professor Lütge, liest man in der Süddeutschen oder der Neuen Züricher Zeitung, wie man aus dem Internet erfahren kann. Ich denke, in den Talk-Shows kommen Kritiker der Politik, nicht Leugner des Virus, auch zu Wort, aber ich schaue grundsätzlich keine solchen Shows. Die sind nämlich die Verwechselung von Blubber mit Politik. Dieser Irrtum ist leider auch unter Politikern und Politikerinnen verbreitet, die, wie man sieht, komplett versagen, wenn wirklich politisches Handeln notwendig wird.
Lütge bezeichnet die Pandemiestrategie der Politik als „Offenbarungseid“, ich nenne sie in meinem Kommentar „Bankrotterklärung“ (1). Der Professor nennt die Strategie „mittelalterlich“, weil man weite gesellschaftlich relevante Bereiche wie Schulen und Universitäten, Theater und Restaurants, einfach abriegelt. Und das ist mittelalterlich, auch wenn man es neuzeitlich Lockdown nennt.
Das Versagen der Politik und einem Teil der Medien seit rund einem halben Jahr richtet Schäden an, die nie wieder gut zu machen sein werden, wirtschaftlich, gesundheitlich, menschlich, moralisch. Vor allem auch bei Menschen wie mir, bei denen sich die Nachteile, durch die Pandemie und die hilflos hektische Pandemiebekämpfung, bisher in Grenzen halten. Aber rund 50 Jahre Vertrauen, mal größeres, mal geringeres, sind vollkommen verschwunden.
(1): Sascha Lobo spricht in einem Spiegelkommentar von "Staatsversagen". Anm. KDR, 4. März 2021
Klaus-Dieter Regenbrecht, Koblenz im Februar 2021
Hier geht es zur Übersicht aller Kommentare.
© 2021 by Klaus-Dieter Regenbrecht |