Ein feiner, in Holz gefasster, zylindrischer Graphitstab
seismografiert meine Hirnströme per inervierter Hand auf ein Blatt
Papier, ein weißes Blatt Papier übrigens, das mir keine Angst macht;
mir machen ganz andere Sachen Angst. Die seismografische Linie wird
mehrfach umgesetzt, transponiert. Das Auge des Lesers tastet die
seismografierte, ramponierte Aufzeichnung ab und gräbt damit die
entsprechenden Linien im Hirn ein, die den Film vorführen, die Platte
abspielen; das tamponierte Hirn.
Ich kann einem von der europäischen Zivilisation völlig unbeleckten
brasilianischen Urwaldindianer "Szenen einer Ehe" von Ingmar
Bergman in der Originalversion vorführen. Ich kann einem
analphabetischen Mitteleuropäer chinesische Schriftzeichen zeigen. Ich
kann einem hick-town-Texaner balinesische Agung-Musik vorspielen. Ich
kann einer Thaitouristentunte einen Picasso der blauen Periode
vorhalten.
In allen vier Hirnen wird etwas vor sich gehen. Auch wenn sie alle
vier nichts verstehen, nach eigener Aussage nichts damit anfangen können.
Sie verfügen über eigene Versionen, auch wenn sie selbst kein
Vertrauen in ihre Visionen haben.
Es wird Unterschiede darin geben, was verschiedene Individuen aus
verschiedenen Kulturkreisen mit Kulturgütern fremder Kulturen anfangen.
Die Europäer haben sich darin am wenigsten rühmlich hervorgetan.
Dennoch glaube ich, die Unterschiede sind nur gradueller und nicht
prinzipieller Natur.
Ich glaube auch nicht, dass es jemals möglich sein wird, ohne
Reibungsverluste von einem Medium ins andere zu wechseln. Es macht einen
Unterschied, ob ich die C-Dur-Tonleiter auf Papier schreibe, was nicht
gleichbedeutend ist mit dem Papier einer Banknote, auf einem Klavier
spiele, mit Buchstaben benenne, in eine Farbsequenz umsetze, auf CD
aufnehme, auf Film belichte, den Klavierspieler filme oder einen Roman
über die Klavierspielerin schreibe, das Notenblatt filme, den ganzen
Vorgang digitalisiere, vor- und zurücklaufen lasse, per Computer phase,
codiere ...
Daraus folgt eindeutig, die Zeichen haben über das Bezeichnete
hinaus eine eigene Qualität und Wertigkeit, so wie das Bezeichnete
immer mehr/anders ist als das Zeichen. Preisauszeichnung im Handel wird
dreigeteilt appliziert, um dem Etikettenschwindel vorzubeugen. Die
Preisangabe 1,89 DM kann vielen und sehr unterschiedlichen Waren
glaubhaft angeheftet werden, so wie "Liebe" auf sehr
unterschiedliche Artikel geklebt werden kann.
Deshalb wird es nie möglich sein, die Literatur, dieses Buch durch
ein anderes zu ersetzen. Daraus folgt umgekehrt: Wer heute noch einen
Roman schreibt, der sich ohne weiteres verfilmen lässt, sollte lieber
gleich ein Drehbuch schreiben und nach dem Film das Buch zum Film mit
vielen schönen, bunten Bildern vorlegen, das heißt nachreichen, um
sich nachträglich zu bereichern.
Bleiben wir in Berlin, wo wir doch gar nicht sind. Ganz im Ernst, wo
bist du, wenn du im Zoologischen Garten bist? Bist du dann noch in
Berlin? Ist ein Elefant ein Elefant, wenn er unweit des Brandenburger
Tores sein Häufchen macht? Und was ist mit den Dinosauriern? Wie kommen
die Skelette hierher? Was soll das heißen, die Dinosaurier sind
ausgestorben?
"Whodunit?", das ist hier mal wieder die Frage, der ich
armer Hund schnüffelnd nachgehen muss. Ich werde diese verdammte Aufklärungsarbeit
leisten müssen im vollen Bewusstsein, dass dieser gottverdammte Genozid
nie aufgeklärt wird. Schon gar nicht von mir und schon gar nicht mit
einer solchen Assistentin!
Es war gegen elf Uhr, Anfang August 1989, ein Tag ohne Sonne und mit
klarer Sicht bis zur Mauer. In der Nacht war ein fürchterliches
Gewitter in den Viermächteluftraum über Berlin eingedrungen und auf
die geteilte Stadt hernieder gegangen.
Ich trug meine verwaschene und an den Oberschenkeln aufgescheuerte
501, schwarze Cowboystiefel, ein schwarzes T-Shirt und eine hellbraune
Schweinslederjacke. Ich hatte mich nicht mehr rasiert, seit ich in
Berlin angekommen war, war aber frisch geduscht und hatte mich
ausnahmsweise parfümiert. Ich war völlig nüchtern und sah genauso
aus, wie ich mir mich selbst als aufstrebenden Nachwuchsschriftsteller
vorstellte. Mich erwartete die Fünftausendmarkstory.
Das Museum in der Invalidenstraße, den Straßennamen
muss man wohl
als Omen nehmen, Nähe Charité war drei Stockwerke hoch. Über den Türflügeln,
die einen Trupp vorsintflutlicher Dinosaurier durchgelassen hätten,
war auf einem breiten, bunten Glasfenster ein Motorradfahrer in dunklem
Lederkombi bei der Befreiung einer Frau zu sehen, die an einen
Laternenpfahl gefesselt war und praktischerweise außer ihrem langen
Haar nichts trug.
Der Motorradfahrer hatte kontaktfreudig sein Visier hochgeklappt und
fummelte an den Stricken herum, mit denen die Dame an den Pfahl gezurrt
war. Aber er kam nicht zu Rande. Ich stand da und überlegte, dass ich,
wenn ich noch öfter nach Berlin kam und die Entspannung etwas weiter
fortgeschritten war, früher oder später hinaufklettern und ihm zur
Hand gehen müsste, denn so richtig Mühe schien sich der sozialistische
Bruder nicht zu geben.
Hinter den Glastüren an der Rückseite des Baues erstreckte sich
eine weite smaragdene Rasenfläche bis hin zu einem HO-Restaurant, vor
dem eine Menge junges Volk lungerte. Das auch schon für Ost-Berlin Übliche:
Skateboards, Walkmen, Mofas, Dosen. Vor dem Restaurant standen ganz in
der Tradition des sozialistischen Realismus dekorativ ein paar
Kunststoffbäumchen umher, sauber gestutzt wie Pudelhunde. Dahinter ein
großes Treibhaus mit Kuppeldach. Dann wieder Bäume und Rasen und
hinter all dem die soliden, geraden, betonierten Konturen der Mauer, die
von dieser Seite einen kaum erhebenderen Eindruck machen konnte, auch
wenn sie doch ganz anders wirkte.
An der Ostseite des Schlosses führte eine fliesenbelegte Freitreppe
hinauf zu einer Galerie mit schmiedeeisernem Geländer und einem
weiteren Prachtstück bunter Glasfensterherrlichkeit. An den freien
Wandflächen standen überall große, harte Stühle mit runden, roten Plüschsitzen.
Sie sahen so aus, als hätten nach Friedrich dem Großen sämtliche
Mitglieder der Volkskammer einmal darauf Platz genommen.
In der Mitte der Westwand war ein großer leerer Kamin mit einer aus
vier Scharnierflügeln bestehenden Messingverkleidung, und über dem
Kamin ein marmorner Sims mit Armoretten an den Enden. Über dem Sims
befand sich ein großes Ölporträt, und über dem Portal hingen
gekreuzt zwei sauber präparierte Unterschenkelknochen eines nicht
ausgewachsenen Brontosaurus in einem Rahmen. Auf der Malerei sah man
einen Struthiominus, der gerade in ein erbeutetes Ei beißen wollte.
Leider trug ich meinen Salzstreuer nicht bei mir. Das Tier hatte einen
Hals wie eine Blindschleiche, Froschschenkel, rote Flecken auf dem Rücken
und den langen, breiten Schwanz. Hier war ich mit dem Herrn Professor
verabredet.
Es war aber nicht der Professor, der kam, es war eine junge Frau. Sie
war wohl Anfang dreißig, klein und schnuckelig ausstaffiert. Sie machte
ganz den Eindruck, als sei sie so assimilationsfähig geworden,
jederzeit zwischen den ausgestellten, urtümlichen Museumsstücken irrtümlich
zu verschwinden. Sie ging, als würden ihre Gelenke von Kupferdraht und
Stahlnägeln gehalten. Sie trug schwarzes, mit naturgrauen Strähnen
durchsetztes, langes Haar, das sie in einem zotigen Knopf, Quatsch!, in
einem knotigen Zopf aufgesteckt hatte, was sie erheblich älter wirken
ließ. Ihre Augen waren felsgrau und wirkten wie eingesetzte, leblose
Glaskörper. Sie kam auf mich zu, lächelte und zeigte dabei ihre von
einer Spange gehaltenen Zahnreihen. Sie war nicht geschminkt, hatte aber
eine unglaublich glatte, fast wächserne Haut.
"Sind Sie aber jung!", begrüßte sie mich mit ihrer
frechen Berliner Schnauze.
"Das sieht nur so aus, wahrscheinlich bin ich älter als Sie.
Ich bin neununddreißig." Ich war mir sicher, dass sie jetzt
kleinlauter wurde.
Und tatsächlich, eine leichte Röte stieg in das Stearin ihrer
Wangen; damit hatte sie nicht gerechnet. Und ich hatte nicht damit
gerechnet, dass eine promovierte DDR-Paläontologin, die auch genauso
aussah, mich wie ein Sexmonster taxierte, um mein Skelett hinterher
ihrer Sammlung fossiler, verflossener Lover hinzuzufügen.
"Und gut sehen Sie aus", sagte sie. "Für einen
Schriftsteller, meine ich."
So ein Biest; ich brummte, konnte aber nichts Eindeutiges
artikulieren.
"Wie heißen Sie?"
"Rotzner", sagte ich, "Karl-Dorian
Rotzner. Meine
Freunde nennen mich Kado."
"Ist das aber ein ulkiger Name. Ich heiße Rose, einfach Rose,
das muss genügen."
Sie ließ das Metall ihrer Spangen blitzen wie die Giftschlange das
Gold in ihrem Maul. Wahrscheinlich trug sie ein Korsett aus
Dinosaurierknochen.
"Sag mal, Mädchen, was soll ..."
"Halt die Luft an, Knabe! Ich bin hier die promovierte Paläontologin,
die 1971 als Studentin bei der berühmten Mongoleiexpedition der Dr.
Zofia Kielan-Zaworowska aus Polen dabei war. Du bist der unbekannte
Schreiberling aus dem Westen, der von der versierten Fachfrau etwas
erfahren will, also benimmst du dich besser. Du könntest ja nicht
einmal den Knochen eines degenerierten, mit Medikamenten vollgestopften
Hähnchens vom sichelförmigen Klauenknochen eines Deinonychus
unterscheiden."
"Dafür kann ich aber auf den ersten Blick eine sympathische
Mitarbeiterin von einer klugscheißerischen, Zahnspange und Korsett
tragenden Giftschlange ..."
"Schnauze, Wessi. Wir machen uns jetzt auf den Weg in die
Rockies nach Montana."
Das konnte ja heiter werden, was sollte ich sagen? Ich selbst hatte
mich ihr auf Verdeih und Gederb ausgeliefert.
Sie saß neben der Landstraße und beobachtete wie der Jeep langsam
den Hügel hinab zu ihr hinunter rollte, und Rose dachte, ich bin aus
Berlin gekommen, ein behaustes Skelett. Den ganzen Weg von Berlin mit
dem Flugzeug, dem Greyhound, dem Jeep, zu Fuß. Ein behaustes Skelett.
Mit dem Kleid der Behausung aus dem Haus der Bekleidung.
Sie dachte, obwohl ich noch gar nicht so lange hier bin, bin ich
schon in Montana, so weit weg von Zuhause. Der Hügel sah aus wie der
vergrößerte Erdaufwurf beim Baseball. Rose faltete die Zeitung
zusammen, stopfte sie in ihren kleinen, ledernen Rucksack, stieg in den
Jeep ein, ohne sich um mich zu kümmern. Sie sah müde aus.
In der Zeitung hatte ich gelesen, dass amerikanische Wissenschaftler
den bisher ältesten Dinosaurier der Welt gefunden hatten. Der
Herrera-Saurus, der in Austin, Texas, vorgestellt wurde, hatte in etwa
die Größe und das Gewicht eines heutigen Schwergewichtsboxers. Der
Herrera stand auf den Hinterbeinen wie auch unser Deinonychus, verfügte
über krallenbewehrte Vorderextremitäten, mit denen er seine Beute
schlug.
Langsam und unter heftigsten Stößen bewegte sich das Geländefahrzeug,
das auch als Schlafgelegenheit diente, zu unserem Fundort.
Was für Tiere waren die Dinosaurier, was ist mit ihnen geschehen?
Warum waren die Dinosaurier so völlig anders als alle anderen Tiere?
Wie lebten sie überhaupt? Warum waren so viele von ihnen teilweise
unglaublich groß? Größer als der Tyrannosaurus waren die Supersaurier
Brontosaurus und Brachiosaurus mit mehr als mannsgroßen Schulterblättern.
Hörten sie einfach nicht auf zu wachsen? Wie lange brauchten sie, um so
groß zu werden? Wie konnten sich die Riesenviecher überhaupt bewegen?
Wie fanden sie genug zu fressen, um sich am Leben zu erhalten? Wir
wissen es nicht.
Und das größte Geheimnis: Warum starb die fast unüberschaubar
vielfältige Familie der Dinosaurier so urplötzlich aus? Mit fast jedem
neuen Skelettfund kommt auch eine neue Theorie über den Untergang ans
Tageslicht. Klimaveränderung, Seuchen, aussterbende Futterpflanzen
durch veränderte Sonneneinstrahlung, Meteoriteneinschlag und und und.
Dabei lassen die fossilen Funde erstaunliche Rückschlüsse auf Leben
und Gewohnheiten zu. Und eigentlich stimmt es auch gar nicht, dass die
Dinosaurier völlig ausgestorben seien. Unsere heutigen Vögel sind
offensichtlich direkte Nachfahren der zweifüßigen, warmblütigen
Dinosaurier-Arten, wie Ornitholestes oder der ganz frühe
Heterodontosaurus; auch unser Deinonychus, dessen Fundort wir uns näherten,
gehört dazu.
Sicher, Rose war keine Schönheit, und sie war noch weniger das, was
man eine auskunftsfreudige Dozentin hätte nennen können. Selbst auf höflichste
wie hartnäckigste Fragen gab sie nur widerwillig Antwort. Aber ich
hatte Gelegenheit, sie zu beobachten im Gelände, bei den Ausgrabungen.
Hatte ich sie im Museum selbst als Ausstellungsstück empfunden,
wandelte sie sich hier draußen im Ödland in der Nähe von Billings in
einen warmblütigen, flinken Räuber (velociraptor), trotz ihrer Spangen
in einen winzigen compsognathus (= eleganter Kiefer) oder in einen
Deinonychus, was fürchterliche Klaue bedeutet und sich nicht auf die
Handschrift bezieht.
Der Hügel war mir sofort aufgefallen. Waren die umliegenden Hügel
von graugrüner Erdfärbung mit Felsen übersät und oft mit
scharfkantigen Graten, so war unser Hügel ringförmig rot gefärbt, von
Orange über Ocker bis ins Violette und hatte eine gleichmäßig runde
Kuppe. Von der abgeflachten Spitze zogen sich immer stärker verästelnde
Wasserrinnen herab, daß man fast auf eine umgekehrte Fließrichtung des
Wassers hätte schließen müssen.
Folgerichtig fühlte ich mich zu dieser eher abstoßenden Forscherin
hingezogen. Sie, die mir hätte Auskunft erteilen sollen, erteilte mir
eine von mir gänzlich unerwartete Lektion. Konzentriert scharrte sie im
Erdreich, bürstete, kratzte, küsste und liebkoste die alten,
verwitterten Knochen - leider nicht meinen - und unterzog mich dabei
einer geradezu inquisitorischen Demontage. Ich hätte soviel Zukunft wie
ein Dinosaurier, der doch wenigstens, im Gegensatz zu mir, eine
Vergangenheit vorzuweisen habe.
"Schau mal hier, Kado! Ist der nicht toll?"
Mein Enthusiasmus über abgenagte Knochen hielt sich nach wie vor in
Grenzen. Wie die Entdeckerin eines verlorenen Schatzes hielt Rose
triumphierend und behutsam, ja zärtlich zugleich einen Fingerknochen
hoch; kaum größer als ihr eigener. Wir knieten uns wieder hin und
suchten weiter.
Nach und nach legten wir mehrere Fingerknochen frei, dann ein Paar
großer, scharfer Krallen.
"Da hat wohl schon eine Kollegin vor dir gesucht und über der
Suche das Essen vergessen."
Schließlich kamen die übrigen Knochen einer mächtigen,
dreifingrigen Greifhand zum Vorschein. Dicht daneben gruben wir die
vollständig erhaltenen Knochen eines Fußes aus.
Da bereits scharfe, gezackte Zähne gefunden worden waren, blieb kaum
ein Zweifel daran, bei unserem Deinonychus handelte es sich um einen
Fleischfresser, und seine Skelettstruktur wies darauf hin, das er zur
Untergattung der Theropoden, gleich Raubtierfüße, gehörte.
"Unser Deino", wie Rose den Zweibeiner stets nannte,
"war wohl nur wenig schwerer als du, Kado. Bei ungefähr 65
Kilogramm Gewicht und einer Gesamtlänge Schnauze über Schwanzende von
zwei einhalb Metern erreichte er aufrecht die Höhe von einem Meter
zwanzig. Er lief genau wie der amerikanische Road-Runner, der
afrikanische Sekretär oder der Strauß auf den beiden Hinterbeinen und
war flugunfähig. Interessant ist auch der Schwanz, der den zweibeinigen
Stand stabilisierte. Außerdem war dieser verhältnismäßig lange
Schwanz ein äußerst effektiver Fortsatz, der die Balance erleichterte
und wie bei einer Katze oder einem Eichhörnchen Steuerung ermöglichte."
Den unpassenden Ausfall gegen die "äußerst uneffektiven Fortsätze"
der Männchen der menschlichen Rasse im allgemeinen klammere ich aus.
Mit kultischer Theatralik entfernte Rose Staubkorn um Staubkorn von dem
furchterregenden, sichelförmigen, mehr als sieben Zentimeter großen
Knochen.
"Beim lebenden Tier bedeckten scharfe, gebogene und nagelartige
Scheiden die Klauenknochen, die fast dreizehn Zentimeter lang gewesen
sein müssen. Das waren perfekte Tötungswaffen, Kado. Du musst dir das
so vorstellen. Unser Deino hat seine Beute mit den vorderen Extremitäten
gekrallt und schlitzte dann die Flanken und den Bauch seiner Opfer mit
den rasiermesserscharfen Klauen auf, während er von einem Fuß auf den
anderen hüpfte und mit dem freien Fuß nach dem Beutetier oder
Angreifer trat. Eine solche Sprung-, Greif- und Schlitzattacke erfordert
hervorragende visuelle Fähigkeiten, Koordination zwischen den Extremitäten
und ein hochentwickeltes Balancegefühl."
Ich fragte mich, ob sich Rose auch dann für unseren Deino so
begeistert hätte, wenn dieses Viech nicht ausgestorben wäre und
vielleicht kleine Kinder attackierte oder Liebespaare, die gezwungen
waren, in einem Jeep zu übernachten. Aber Rose hatte weder für Kinder
noch für Liebespaare etwas übrig.
Unser Goldgräberurlaub in Montana ging dem Ende zu, als schließlich
der Rest unserer Ausrüstung eintraf, samt komfortablem Zelt. Das Zelt
war ein Spitzenprodukt eines westdeutschen Trekking- und
Adventurespezialisten, von dem wir es umsonst bekommen hatten, um es zu
testen.
Wir hielten uns zunächst sklavisch an die Aufbauanleitung, breiteten
den Boden des Innenzeltes auf dem "möglichst glatten und
sauberen" Montanauntergrund aus.
"Stecken Sie nun die Heringe durch die am Innenzelt befindlichen
Ösen in den Boden", las Rose vor, und ich trat an, die Heringe in
den Montanafels zu treiben. Ich schaffte es einen Zentimeter weit, aber
das hatte genügt, um aus den Heringen Hakennägel zu machen, mich
zwischen den Zeltschnüren zu verfangen, und beinahe wäre ich so
verpackt den sanften Montanahügel hinabgerollt, als Zeltmumie in
irgendeinem Creek gelandet, der mich zum Mississippi mitgenommen hätte.
Rose wühlte in den Grabungsutensilien und danach hatte der
Montanafels keine Chance mehr. Mit einem Vorschlaghammer hieb sie Pflöcke
in Grund und Boden, und keine Elefantenherde hätte sie je wieder
herausbekommen.
"Fügen Sie nun die zwei Satz Fiberglasgestänge zusammen und führen
Sie es diagonal durch die Tunnelführung am Innenzelt am Gestänge auf,
beziehungsweise hängen Sie das Innenzelt am Gestänge auf", befahl
ich, und jeder griff sich ein Gestänge. Hatte man die Gelenke
zusammenschnappen lassen, waren die Biester verdammt lang und sehr
elastisch. Das entfernte Ende der Fiberglasstange in die Tunnelführung
am Innenzelt einzuführen, dazu fällt mir kein Vergleich ein, weil das
ja ohnehin eine Metapher ist für die Unmöglichkeit.
Ohne Frage darf ich bei Rose böse Absicht vermuten, Fahrlässigkeit
allemal, jedenfalls stach die falsche Schlange mir mit dem Fiberglasgestänge
in meine "äußerst uneffektiven Fortsätze". Es war sicher
nicht fein, aber während ich zu Boden ging, habe ich ziemlich hart
meine Fiberglasstange durch ihr Gesicht gezogen. Das gab einen schönen,
roten Streifen auf ihrer Wachswange, es tröpfelte sogar ein Hauch Blut.
Blutrot versank die Sonne beschämt hinter den Rockies, hinter denen
der Pazifik allem ein Ende setzte. Rose und ich lagen im Montanastaub,
in dem ganz andere Dramen begraben liegen.
"Can I help you? - Wir wünschen Ihnen viel Freude mit Ihrem schönen
Zelt. - Are you German?"
Der uns das gefragt hatte, war kein Deutscher, aber auch kein
Amerikaner. Er besaß unverwechselbar britischen Akzent, das war bei der
deutschen und der englischen Textstelle unüberhörbar.
Hinter ihm kamen vier weitere, abgerissene Figuren den Hügel herab,
die nichts Gutes verhießen. Eine beschissenere Ausgangslage für ein
show-down konnte es gar nicht geben. Rose und ich lagen angeschlagen im
Dreck, der Englishman ragte vor uns in den Abendhimmel des Wilden
Westens, und wie in Zeitlupe und völlig geräuschlos kamen die vier
Desperados den Abhang von der unbefestigten Landstraße herunter.
Ihr Auto, ein alter, verstaubter Caravan, hatten sie auf der Straße
mit offenen Türen stehen lassen. Sie waren ausgestiegen, um eine
Pinkelpause einzulegen; ich hatte das genau beobachten können. Erst
nachdem sie sich alle ausgepisst und die Reißverschlüsse hochgezogen
hatten, bemerkten sie uns am Boden Liegende.
Ich sah Rose nach dem Vorschlaghammer greifen und blickte beschwörend
den Englishman an:
"Hold it, hold it, wait a minute", und da kam auch schon
langsam und folgsam der Caravan hinter den Vieren den Hügel
hinabgepoltert. Nicht allzu schnell, der Hügel neigte sich nur
unmittelbar neben dem Feldweg abrupt, das Gefälle wurde dann aber immer
geringer und ging unmerklich in unseren ebenen Lagerplatz über.
Obwohl die freie Fahrt des herrenlosen Fahrzeugs auch durch reichlich
herumliegendes Geröll gebremst wurde, schien es uns ratsam, zur Seite
zu springen. Die Karre rollte über das am Boden liegende Zelt und blieb
an einem größeren Felsblock endlich stehen. Der Englishman und seine
Desperados hampelten wild lamentierend um ihr schönes, nur leicht lädiertes
Auto herum.
Die vier Desperados sprachen "gottverdammtes fucking Scheißauto"
deutsch und auf die verstaubte Heckklappe hatten sie mit dem Finger
"L.A. or bust" geschrieben.
Weil es mittlerweile fast stockfinster war, beschlossen wir, alles
stehen und liegen zu lassen, machten ein gemütliches Lagerfeuer, und
unsere fünf Gäste, die von Ontario herüberkamen, wo sie als Tabakpflücker
gearbeitet hatten, waren bestens ausgerüstet mit Dosenbier
"Budweiser" und frischem Grillfleisch.
Der Herrera-Saurus tauchte als erster auf dem Monitor auf. Wie bei
"Nase vorn" hüpfte er los und konnte es nicht weit bringen.
Unten im Monitor ein- und ausgeblendet die Zahl von 230 Millionen, die
sich digital auf den weiten Weg gegen Null machte und dabei nicht zu
sehr überziehen durfte, weil das die Zuschauer des Sportstudios erzürnt
hätte. Im oberen Bereich des Bildschirmes strahlte regenbogenfarbig das
Wort TRIAS. Es hüpften ins Bild und wieder hinaus nach unterschiedlich
langen Phasen der Heterodontosaurus, der Plateosaurus, der Coelophysis
und ganz kurz der Procompsoganthus. Ebenso im Trias erschienen der
Diplodocus, der Brontosaurus, der Allosaurus, der Megalosaurus und der
Brachiosaurus.
Bei 195 Millionen wechselte TRIAS zu JURA mit Allosaurus, Stegosaurus,
Camptosaurus, Ornitholestes. 136 Millionen KREIDE: Hypsilodophon,
Iguanodon, Triceratops, Velociraptor, Protoceraptor und unser Deino,
Tarbosaurus, vermutlich Vorgänger unserer heutigen Turbosäue,
Ancylosaurus, Torosaurus, Corythosaurus, Tyrannosaurus, Anatosaurus, 65
Millionen: GAME OVER.
Rose hatte ordentliche Nackenschmerzen vom Graben in gebückter
Haltung. Was sie denn ausziehen sollte, wollte sie von einem der
Desperados wissen, der sich bereit erklärt hatte, ihren Nacken zu
massieren.
"Die Zahnspange kannst du anbehalten."
Sie behielt sie an und revanchierte sich für die wohltuende
Nackenmassage, die sie unanständig stöhnend genoss, mit der
altbekannten Zweifingermassage (Daumen und Mittelfinger) des
uneffektiven Mister Y. Als die ganze Chose wie bei Bob Wilson in einen
blow-job ausartete, zogen auf allen umliegenden Hügelzinnen deutsche
Desperados auf, die jeder einen Caravan wie einen Hund mit sich führten.
Die Desperados, die in allen deutschen Dialekten "gottverdammtes
fucking Scheisscar, bei Fuß!" radebrechten, trugen Cowboyhüte,
lange, weite Mäntel, die sie im Rücken zusammengesteckt hatten, um
einen schnelleren Zugriff "Zieh!" zum Revolver zu haben. So
stiefelten sie steif und bedrohlich auf uns zu, die wir in der Mitte um
unser Lagerfeuer zusammengetrieben und eingekesselt waren. Während sie
wie im Abfarcerennen auf uns zu stolperten, es war ja reichlich duster
und das Gelände unwegsam, man hörte sie mehr als man sie erkennen
konnte, wuchs wie hydraulisch betrieben unter uns aus dem Montanafels
eine breite, chinesische Berliner Mauer empor, die uns höher und höher
hob und uns vor allen nächtlichen Gefahren in Sicherheit brachte.
Die deutschen Desperados "disappear!" verschwanden, dafür
waren auf beiden Seiten der Mauer zwei Frauenregimenter aufgezogen mit
ungeheuerlichen Geschützen. Wir sahen die Geschosse geräuschlos über
uns hinweghuschen, hörten sie dann kommen, die doch auf der anderen
Seite längst eingeschlagen waren. Über uns kreiste mit irrlichternden
Suchscheinwerfern ein Helicopter, der von Jupp gesteuert wurde. Als die
Amazonen ihr Überschallpulver verschossen hatten, begannen sie wie
wildgewordene Mauerspechte auf unsere Zuflucht einzuhacken. Rose brüllte
wie von Sinnen:
"We are in love, fuck the war!"
© by Klaus-Dieter
Regenbrecht, Koblenz 2009
Aus "Transit Wirklichkeit"
hier
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