Das Camp-
Acht neue Erzählungen:
Epilog mit
Parabel
Vor dreißig
Jahren sprang ein junger Mann weit, unglücklich weit, insofern er unglücklich
landete. Der Sprung selbst war geglückt, wie gesagt: er war weit, der
Sprung, und geglückt.
Dreißig
Jahre später wollte er eine Parabel schreiben, aus dem Weitspringer ist
eine Hochspringerin geworden in der vagen Hoffnung, der Bewegungsablauf
bei der Landung einer hübschen, jungen Sportlerin nach einem geglückten
Hochsprung, sinnigerweise Flop genannt und nach seinem Erfinder Dick
Fosbury, biete eine größeres Potential an beschreibbarer erotischer
Energie.
Hochsprung
Eine Parabel über Hochsprung, Erfolg und Verlust
Der Tag, an dem AT verschwand, hatte eigentlich ihr erfolgreichster Tag
werden sollen. Der Tag ihres größten Triumphes, der Tag, an dem sie die
Goldmedaille erringen sollte. Sie hatte sich intensiv darauf vorbereitet,
sich in Jahre langem Training gequält, sich durch schmerzhafte
Verletzungsphasen und tiefste Motivationskrisen an die Weltspitze
gebracht. Sich hatte sich immer wieder gegen schärfste Konkurrentinnen
und Funktionärsintrigen behauptet. Sie hatte ihr Leben lang gekämpft,
sie hatte alles gegeben und alles aufgegeben, nur um einmal ganz oben auf
dem Treppchen zu stehen, als Olympiasiegerin den Lorbeerkranz zu erringen.
So oft war sie nahe daran gewesen und hatte dann doch versagt, sich
verletzt, war von Konkurrentinnen übersprungen worden. Die ewige Zweite,
die ewige Verliererin; sie war fast ein Jahrzehnt lang unter den Besten
gewesen aber auch die größte Versagerin, weil sie es nie geschafft
hatte, Olympiasiegerin zu werden.
Sie wusste, sie würde es schaffen, sie würde gewinnen. Sie wusste, dass
sie sich verlieren musste, um zu gewinnen. Sie wusste, dass die
Verliererin diejenige war, die siegen und verschwinden musste. Sie war
dazu bereit.
Sie überspringt
die Höhe in ihrem letzten Versuch, ist Olympiasiegerin, noch bevor sie
auf der Weichmatte auftrifft, und sofort verschwunden. Es gibt keinen
unterirdischen Gang unter der Matte, keinen geheimen Weg aus dem Stadion.
Wohin ist sie verschwunden?
Was nicht
direkt gesagt wird, AT ist verschwunden mit ihrem ersten Sieg. Denn die
AT, die es bis dahin gegeben hat, gibt es nicht mehr.
Aber mit
Parabeln ist es heutzutage so eine Sache, denn wer will so etwas lesen?
Vor
dreißig Jahren hat der junge Mann, der sich beim Weitsprung verletzt, ein
Gedicht verfasst über einen jungen Mann, der weit springt, zu weit, und
sich verletzt. Im Krankenhaus führt ihn die Frage „Warum muss mir das
passieren?“ zu der Erkenntnis, dass der Bruch da ist. Welcher Bruch,
wird nicht gesagt, also darf man davon ausgehen, dass nicht nur der
Knochenbruch gemeint ist. Womöglich hat der Bruch die Bedeutung einer
Lossagung. Die Hinwendung zu etwas völlig Neuem. Aus der Hilflosigkeit
der Verletzung, die außerdem anfangs nicht ernst genommen wird, zu einer
neuen Form der Genesung. Der Genesung des Schreibens im Bewusstsein des
Bruches.
Es
ist viel gesagt und geschrieben worden über die Verknüpfung, die Abhängigkeiten
und die Unterschiede zwischen den Fakten, der Wirklichkeit, und ihrer
Darstellung in einer (wie auch immer) künstlerisch aufgearbeiteten Form.
Schriftsteller haben sich selbst immer wieder in Kommentaren über ihre
Arbeit, über ihr Leben und über ihr Verständnis von Literatur geäußert.
Die nicht geringste Verlockung des Konzeptes „Tabu
Litu – ein documentum fragmentum in neun Büchern“ im Selbstverlag
bestand in der Möglichkeit des systemimmanenten Selbstkommentars,
sozusagen.
Dass
bei Künstlern allein das Werk zählt, ist genau so wahr wie ihre
Einlassungen es sind zu dem, was sie machen, warum sie es machen und wie
sie es machen. Und ihre Einlassungen sind wichtiger und richtiger als alle
Kommentare von Kritikern. Das kann man leicht der Literaturgeschichte
entnehmen. Kritiker sind Teil des Marktes, Literatur ist es nur zum Teil.
Es wird kein Kritiker posthum entdeckt und vermarktet werden.
Wie
sind Schriftsteller mit Misserfolg zurecht gekommen? Unterschiedlich. So
unterschiedlich wie die Definition von Erfolg und Misserfolg ausfallen
mag. Ich für meinen Teil kann sagen, der Misserfolg hat mich nicht vom
Schreiben abhalten können, er hat mich nie länger als eine, auf dreißig
Jahre gesehen, kurze Zeit beeinträchtigen können. Krisen gehören zum
Schaffen. Und nach jeder habe ich mit neuem Mut und neuen Ideen einen
Schritt nach vorne getan, habe mich verändert und, wie ich glaube, weiter
entwickelt.
Und
ist es kein Erfolg, dreißig Jahre überlebt zu haben mit mehr als zehn Büchern
und ohne sich finanziell, gesundheitlich oder seelisch ruiniert zu haben?
Ich
müsste lügen, wenn ich sagte, mir sei der Erfolg, das, was man öffentliche
Anerkennung nennt, beziehungsweise sein Ausbleiben, gleichgültig gewesen.
Aber wichtiger war mir immer die Arbeit, das Schreiben. Wichtig war mir,
ein eigenständiges Werk zu schaffen, zu entwickeln und vorzulegen, auf
das ich am Ende stolz sein kann, weil es unverkennbar mein Werk ist. Und
mir war bald klar, dass diese Einstellung meine Chancen im
Literaturbetrieb keineswegs verbessert. Ich habe meine Einstellung nicht
aufgegeben und mir gesagt, wenn ich scheitere, dann scheitere ich an etwas
Großem. Ich wollte nie ein lokaler Matador sein, auch wenn ich es
vielleicht geworden bin, ich wollte kein respektabler Autor sein, der hie
und da gutes Geld verdient. Ich wollte und will immer noch mein Schreiben
im Zusammenhang meines literarischen Kosmos sehen, in dem Autoren wie
Kafka oder Benn, Auster oder Pynchon zuhause sind. Ich gehe mit dieser
Vorgabe nicht hausieren, denn man müsste mich für größenwahnsinnig
halten und nur müde belächeln, ohne alle Bücher gelesen zu haben, die
ich gelesen und geschrieben habe. Das will keiner, das kann keiner, das
ist schlicht unmöglich. Aber natürlich sind auch andere Annäherungen möglich,
fast jede beliebige Leselaufbahn könnte meine Literatur kreuzen, auf sie
einschwenken und irgendwann wieder abbiegen. Falls es keinen Unfall gibt.
Dreißig
Jahre und kein Fazit, ich bin im Sprung und liege auf dem Rücken, so
lange ich dieses spannende Paradoxon aushalten und leben kann, werde ich
weiterschreiben und mich aus jeder Krise wieder ins Leben stürzen.
Der
junge Mann, der den Sportunfall hatte, war natürlich ich selbst, und
ich habe nicht nur Sport studiert damals in Tübingen, sondern auch
Anglistik und Amerikanistik. Mein Einstieg in die Literatur geschah nach
intensiver Lektüre als Jugendlicher über die Literaturwissenschaft und
gerade zu dem Zeitpunkt, als ich mich beim Weitsprung in der Halle
verletzte. Aufgebaut waren eine Kastentreppe aus drei Kästen, der dritte
und letzte immerhin einen Meter und zwanzig Zentimeter hoch, die Matte im
Anschluss eine Sechsmetermatte. Gelandet bin ich auf dem Hallenboden genau
zwischen dieser Matte und den Turnmatten, die zur Sicherheit dahinter
lagen.
Die
Erkenntnis des Bruchs ist mehr der Auseinandersetzung mit Literatur zu
danken als der äußeren Verletzung, auch wenn das mit keiner Zeile, außer
vielleicht der letzten „Der Bruch
ist nun klar / zu erkennen; und ich / liege auf dem Rücken“, direkt
geäußert wird. Äußere Verletzungen habe ich in meinem Leben viele
gehabt; ich habe gutes Heilfleisch und viele Narben. Wer auf dem Rücken
liegt, hat den besten Blick geradewegs nach oben, in den Himmel, in die
Unendlichkeit.
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© 2018 Klaus-Dieter Regenbrecht |