Klaus
Theweleit hat in seinen „Männerphantasien“ unter anderem gezeigt,
dass man die Nazis nicht schon deshalb versteht, weil man viel über sie
redet, sondern erst, wenn man sie reden lässt, wenn man das, was sie
gesprochen und geschrieben haben, liest.
Wie
kommt es, dass ein Buch wie „Milchgeld“, ein Krimi des
Autorenteams Klüpfel, Kobr voller sprachlich schwerster Fehler mit
unendlich vielen sachlichen und logischen Ungereimtheiten, von so vielen
Lesern nicht nur gelesen, sondern auch verstanden und so gemocht wird,
dass es auf der Bestseller-Liste landen konnte. Normalerweise müsste es
jedem, der Muttersprachler Deutsch und mit einigermaßen Sprachgefühl
ausgestattet ist, der nicht einmal sonderlich versiert in Sachen
Grammatik sein muss, ähnlich gegangen sein wie mir. Ich habe das Buch
beim ersten Lektüreversuch nach zwei Seiten weglegen müssen, weil es
mich schwindelig machte, mir geistige Pein bereitete. Zwei, drei Jahre
später habe ich es erneut versucht. Es ging wieder nicht. Und das lag
nicht an der Story, am Plot, dem Fall, den Protagonisten, so weit bin
ich gar nicht gekommen in meiner Lektüre, nein, es lag allein an der
Sprache, am Text.
Also
habe ich mit Bleistift weitergelesen und schaffte es so immerhin bis
Seite 100 (von 300), die Liste der kritischen Anmerkungen zu den Fehlern
und Ungereimtheiten ist ziemlich lang geworden und zeigt, dass deren
Quantität und Qualität jenseits dessen liegen, was tolerierbar wäre (hier
kann man sich davon überzeugen).
Die erste Frage ist natürlich, hat ein solches Buch je so etwas wie Lektorat erfahren? Man kann nur hoffen, dass die Antwort „nein“
lautet. Das Buch ist zuerst in einem regionalen Verlag erschienen und
wurde wegen der guten Verkaufszahlen von Piper ins Programm genommen.
Die zweite Frage ist, warum im Feuilleton kein Aufschrei erfolgte, der
den Verlag gezwungen hätte, das Buch vom Markt zu nehmen, zu
lektorieren und zu korrigieren. Man mag auch hier wohlwollend
unterstellen, dass niemand den Roman gelesen hat. Die dritte Frage
schließlich, warum glauben Leser tatsächlich, das Buch „verstehen“
zu können? Und diese Frage ist nicht ironisch gemeint. Das Buch
entwickelte sich so, aus einem umgekehrten Unverständnis gewissermaßen,
zum Selbstläufer. (Schriftsteller, die nicht schreiben können, und
Leser, die nicht lesen können, sind also ein Erfolgsrezept! Das so zu
formulieren ist, zugegeben, nicht nur ironisch sondern auch zynisch,
weil hier eine Ausnahme zu viel Aufmerksamkeit erfährt – hat aber
nichts mit Neid zu tun).
Man
stelle sich folgende Situation vor: Zwei Männer stehen an der Theke und
„unterhalten“ sich über eine Frau. Der eine Mann meint: „Die sah
klasse aus, weißt du, echt, so! Boah, solche Teile, ich kann dir
sagen!“ Er kann aber doch nichts weiter sagen, sondern verdreht die
Augen, macht mit den Händen die allseits bekannten Andeutungen: „Du
weißt, was ich meine.“ „Ich versteh dich vollkommen, echt, so eine
habe ich letztens auch gesehen, genau das Kaliber, geile Teile!“ kommt
die Antwort. Die beiden verstehen sich hundertprozentig und wissen
genau, was gemeint ist. Kommunikation ist hier nicht mehr der Austausch
von Information von zwei autonomen Individuen, sondern Wahrnehmung von
Bestätigung eigener Wahrnehmung. Das Medium, das Mittel, die Sprache,
vermittelt nicht mehr zwischen jenseits und diesseits, zwischen dir und
mir, sondern ist der Tummelplatz aller, die diesseits und jenseits nicht
mehr interessiert. Wir sind hier und wir sind die Welt.
Auf
diesem Niveau, sprachlich und intellektuell gesehen, allerdings nicht
sozial oder moralisch, funktioniert „Milchgeld“. Nur, weil hier
Situationen geliefert werden, die jedem bekannt sind, der schon einmal
einen Krimi im Fernsehen verfolgt hat, kann der Leser, ohne genau zu
lesen, was da steht, sagen, genau, kenn ich! Da das Ganze dann aber in
einem Milieu präsentiert wird, das womöglich in einer der weniger
medial ausgeleuchteten Regionen (landschaftlich wie ethnologisch)
beheimatet ist (das Allgäu), ist so einer wie Kluftinger (der
Kommissar) auf einmal Kult. Was im Übrigen so oder ähnlich generell
für den Boom von Regional-Krimis gelten mag. Selbst Krimi-Autoren wie Stieg Larsson (s. Kommentar) schienen mehr Kompetenz in Sachen Plot zu entwickelt zu
haben als in sprachlicher Hinsicht.
Das mag
für die einen schlimm genug und die anderen belanglos sein, die
Kehrseite der Medaille ist aber viel gravierender: Ein sauber
formulierter Text, der womöglich kompliziertere Themen transportiert,
die aus der ständigen Berieselung aus dem Fernsehen nicht bekannt sind,
wird nicht mehr verstanden.
Und das
postmoderne Dilemma geht noch tiefer. Der Poststrukturalismus hat, ich
vereinfache, aufgezeigt, dass der Leser erst das Buch zum wirklichen
Leben erweckt. Dass er es ist, der den Text zum Atmen bringt, indem er ihn
in seiner Phantasie Konturen bekommen lässt, er ihn in seine
Lebenswirklichkeit transportiert. Das geschieht relativ unabhängig vom
Text und ist auf jeden Fall vom Autor nur schwer zu beeinflussen – es
sei denn über den Text selber. Weshalb viele postmoderne Autoren, die
sich dieser Entwicklung nicht nur bewusst sind sondern sie – im
Prinzip! – begrüßen, auch stark meta-literarisch arbeiten, das heißt,
dem Leser auf eine subtile Art und Weise im Text selber Kriterien und
Materialien an die Hand geben, die ihm zeigen, wie man den Text lesen
kann, wie man ihn verstehen kann, ihn in seine Lebenswirklichkeit übersetzen
kann, ohne die Autonomie des Textes zu missachten. Denn, und das ist ein
gravierender Punkt, auch die Botschaft, um im Bild von Sender –
Botschaft – Empfänger zu sprechen, hat ein Recht. Weder der Autor, noch
der Leser können sich beliebig darüber hinwegsetzen.
„Was
will uns der Autor damit sagen?“ Wenn er das, was er sagen wollte,
nicht sagen konnte, hätte er wirklich besser geschwiegen.
Das
Dilemma liegt also darin, dass heute etwas passiert, was die Künstler
eigentlich wollen und gefordert haben, die Autonomie und Souveränität
des Rezipienten von Kunst nämlich, was aber nun auf eine Art und Weise
geschieht, die überhaupt nicht im Sinne der Kunst sein kann. Es sei
denn, man glaubt, Warhol habe sich mit seiner Forderung, jeder ein Star
für fünf Minuten, und Beuys mit seiner Behauptung, jeder sei ein Künstler,
Dieter Bohlen, deutsche Superstars und ähnlichen Sendungen als wahre
Kunsterfüllung erträumt. Dann wäre tatsächlich alles Kunst und alles
beliebig belanglos.
Der Künstler
hat sich emanzipiert und die Rezipienten sind ebenso auf dem Wege zur
Autonomie, mögen beide das Kunstwerk dabei nicht aus den Augen
verlieren.
„Josefine,
die Sängerin oder das Volk der Mäuse“ von Franz Kafka, ist eine sehr
hellsichtige Erzählung. Vgl auch Kommentar 8
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