Zuerst das
aktuelle und positive Beispiel 2011: Selbstverständlich ist dem
auktorialen Erzähler prinzipiell alles erlaubt. Ich darf deshalb eine geniale Handhabung dieser Erzählweise als
Gegenbeispiel voranstellen. Aus "Against the Day" von
Thomas Pynchon (New York 2006):
"Pedestrians
below were moving at their accustomed gaits, sitting at the
tables in front of Florian and Quadri, if Francophile raising
toasts to Bastille Day, feeding, photographing, or cursing the
pigeons, who, aware of some baleful anomaly in their sky,
stuttered wildly into the air, then, reconsidering, settled,
only to sweep a moment later heavenward again, as if on the
strength of a rumor." (S. 255)
Die Perspektive
der Fußgänger unten (pedestrians below) erschließt sich erst
mit dem Beginn des nächsten Abschnitts:
"Seen from
the ground, the rival airships were more conjectural than
literal - objects of fear and prophecy, reported to perform at
speeds and with a manoeuvrability quite unavailable to any
official aircraft of the time - condensed or projected from
dreams, estrangements, solitudes." (S. 255)
Vom Boden aus
gesehen (seen from the ground) erkennt man also die beiden
konkurrierenden Luftschiffe und weiß, dass es deren (bzw. deren
Insassen) Perspektive ist hinunter auf den Platz und die Tauben.
Womit sich auch das "Gerücht" (the strength of a
rumor) als absolut konsequentes Bild darstellt. Die Luftschiffer
hören nicht, was unten gesprochen wird, aber es kommt ihnen
vor, als würden dort unten Gerüchte verbreitet, die die Tauben
auffliegen lassen. Damit wird das Bild der Tauben, die wie von der
Kraft eines Gerüchtes getrieben in die Luft flattern (genau
stutter = stottern; großartige Metapher: der unregelmäßige
Flügelschlag der Tauben beim Auffliegen),
nicht weniger schön, aber vor allem zeigt sich hier, wie ein
kompetenter Erzähler konsequent die Befindlichkeit der Figuren
vermittelt. Ihre Wahrnehmung ist eindeutig aus ihrer
Befindlichkeit gespeist und es sagt eine Menge über ihr
Verhältnis zu "unten", wenn sie dort Gerüchte
vermuten.
Die
"unheilvolle Anomalie an ihrem Himmel" (baleful
anomaly) ist ein
emphatischer Perspektivwechsel auf die Sicht der Tauben oder der
Menschen am Boden. Auch
das "reconsidering" (sie überlegen es sich noch
einmal) ist Taubenperspektive oder vielleicht emphatische
Wahrnehmung eines Luftschiffers, in seinem Luftschiff, der
unheilvollen Anomalie. Es geht ein paar Mal von unten
nach oben und umgekehrt, aber immer ist es absolut schlüssig
und eindeutig in seiner Genauigkeit und schillernden Ambiguität.
Das ist ein wunderbares Wechselspiel zwischen unten und oben,
Mensch und Tier, dem Luftschiff und Venedig (die Stadt unten),
Furcht und Prophezeiung (fear and prophecy). Man könnte jedes einzelne Bild, jedes Wort in seinem
Zusammenhang interpretieren und würde immer nur Stimmiges
finden. Das ist schön und das ist gekonnt, das ist elegant und kommt ganz leicht daher. Wenn ich solche Sätze lese,
dann macht
das mich auf der Stelle glücklich. Und ich weiß, wenn ich nur diese
zwei Sätze interpretiere und auseinander nehme, werde ich perfektes Handwerk finden und absolute Könnerschaft.
Wenn ich Sachen
wie den Steinesammler lese oder „Milchgeld“
von Klüpfel/Kobr, dann dreht sich mir der Magen um und
ich weiß, wenn ich das interpretiere und auseinander nehme,
finde ich nur Mist: falsche Bilder, handwerkliches Gestümpere
und groteske Perspektivwechsel. Wie viel schöner sind solche
Worte:
... objects of fear and prophecy, reported to perform at
speeds and with a manoeuvrability quite unavailable to any
official aircraft of the time - condensed or projected from
dreams, estrangements, solitudes." (Pynchon S. 255) ...
verdichtet (kondensiert) oder ausgetüftelt (projektiert) aus Träumen, Entfremdung,
Einsamkeit. Der
Link zur deutschen Ausgabe "Gegen den Tag". Die
Worte "condensed or projected" zeigen sehr schön, in
welchem Dilemma ein Übersetzer steckt. Er/sie muss sich
entscheiden zwischen der mehr technischen oder der mehr
literarischen Variante.
© by kloy
2011
Hier
das Gegenbeispiel
"Du stinkst wie ein Schnapsladen", sagte der
Busfahrer ungeduldig, kurbelte am Fahrscheinausgeber, riß den Schein
ab, schimpfte, daß die Züge dauernd Verspätung hätten und er warten
müsse. (...) Der Fahrer blickte in den Innenspiegel, bevor er losfuhr.
Leute aus Keldenich und Zingsheim saßen im Bus, Kinder von den
Siedlungshöfen, die im Hallenbad gewesen waren, Bärbchen mit ihrer
Tochter Mechthild und Mättes, der wie Braden lange vergebens an der
Straße auf einen Steinlastwagen gewartet hatte. Milli saß auf der letzten Bank, lehnte mit der Stirn am Fenster
und summte etwas, während Braden durch den Gang zu ihr hin
torkelte. Als der Bus losfuhr, blieb er mit seiner Jacke an einem Sitz
hängen.
»Ich werf dich raus, wenn du mir in den Bus kotzt«, schrie der Fahrer." (Norbert Scheuer, Der
Steinesammler, Frankfurt/M. 1999,
S. 27).
Dieser Abschnitt ist ganz klar
aus der Perspektive (Innenspiegel) des Busfahrers geschildert, dessen
Perspektive jedoch zweimal durchbrochen wird, weil er nicht wissen kann, worauf
Mättes und Braden 'lange vergebens' gewartet haben, und er kann auch nicht hören, dass
'Milli
summte'. Der Bus fährt mittlerweile.
"Milli sah nach draußen zu den Sandsteinfelsen, in denen
Millionen von Quarzpartikeln glitzerten. Einen Moment lang wußte sie
gar nicht, wo sie war, dachte, in einem fernen, unbekannten Land zu
sein, auf einem Schiff an einer Meeresküste mit rötlichen
Klippen." (A.a.O., S. 27)
Auch hier wird Millis Blick,
ihre Perspektive, durch ein Detail durchbrochen, das eindeutig in
Bradens, des Steinesammlers, Wahrnehmung fällt: 'Quarzpartikeln
glitzerten'. Sie wird ihm gleich im Bus einen billigen, blau angemalten
Stein schenken, zu dem es dann richtigerweise aus Bradens Perspektive
heißen wird 'Es war blau angemaltes, vom Wasser rundgeschliffenes
Sedimentgestein.' (A.a.O., S. 29). Es geht weiter bei Milli,
Anschluss 'Klippen':
"Dann sah sie Bärbchen mit ihrer Tochter, die neugierig zu ihr
hinsah und Braden beobachtete, der sich neben sie setzte. Bärbchen sah
aus wie eine alte Hexe mit weißen langen Haaren am Kinn. Braden war mit
ihr verwandt. Hin und wieder reparierte er ihre Weidezäune, das
Schuppendach, machte im Sommer das Heu für sie. Mechthild schrie mit
heller piepsiger Stimme - sie mußte schreien, weil Bärbchen
schwerhörig war. Sie beobachtete Braden, der nun neben Milli saß und
schwieg, es war schon immer so gewesen, sobald er in ihre Nähe kam,
verlor er auf eigentümliche Weise die Besinnung, als hätte sie einen
Duft an sich, der ihn betäubte und willenlos machte." (A.a.O., S.
27 f.)
Es geht also eindeutig
zunächst mit Millis Perspektive
auf Bärbchen und Tochter weiter, der Satz 'Braden war mit ihr
verwandt' könnte noch ihre Perspektive sein, aber auch schon eine
andere (Mechtilds, Bärbchens?), 'Hin und wieder reparierte er
ihre Weidezäune ...', ist ähnlich herrenlos, passt in keiner Weise zu
Milli, so wie sie als Figur angelegt
ist, sie ist Fixerin und ihr sind mit Sicherheit Weidezäune und Schuppendächer
scheißegal. 'Sie beobachtete Braden ...', Perspektive der Mechthild
offensichtlich auf Braden, aber noch im gleichen Satz '... der ihn
betäubte und willenlos machte', sind wir bei Bradens Empfindungen. Das alles auf anderthalb
Seiten.
Natürlich! Daraus hätte man eine Menge machen können:
Busfahrer blickt im Innenspiegel auf Braden, der blickt auf Milli, die
nach draußen sieht, dann in den Innenspiegel, dem Blick des Busfahrers
begegnet. Aber so ist es nur konfus. Ein typischer Anfängerfehler: Der
Autor weiß, was er sagen will und er sagt es, ob es (zu) den Figuren
passt oder nicht. Und man muss den Roman wirklich nicht bis zum bitteren
Ende lesen, um zu wissen, dass der Autor seine Sicht der Dinge gnadenlos
gegen seine Figuren behauptet.
Filmisch bedeuteten dies - in
etwa! - Fehler in der Continuity, Milli sitzt in der letzten Bank, als
der Busfahrer auf sie blickt, aber irgend wo mitten im Bus, als sich
Braden zu ihr setzt, oder sie hat mal rote, mal blonde Haare, so etwas
kommt bekanntlich in den besten Filmen vor. Frage ist nur, ab welchem
Punkt der Offensichtlichkeit und Häufigkeit die Toleranzgrenze
überschritten ist. Und die beiden von mir als herrenlos eingestuften
Sätze wirken ungefähr so, als laufe da ein kleines Männchen
(vom auktorialen Erzähler/Regisseur losgelassen) durch den Bus und hielte ein Schild hoch, auf dem geschrieben steht:
'Achtung! Braden ist mit ihr verwandt. Hin und wieder repariert er ...'
Den normalen Leser müsste so
etwas eigentlich gar nicht interessieren. Darum hat sich das Lektorat zu
kümmern. Oder spätestens die Kritik. Aber wenn das so veröffentlicht
und gelobt und ausgezeichnet wird, ist etwas oberfaul. Weil nämlich die
Konfusion, die solche Texte unweigerlich auslösen, bei bestimmten
Leuten als Erkennungsmerkmal für KUNST/LITERATUR gesehen wird.
© by kloy 2018
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